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Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)

Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)

Titel: Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)
Autoren: Andrew Miller
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gedemütigt.
    Vom Dach her weiteres Gejohle und Geschrei. Er tritt aus dem Schatten der Kirche, späht am Gerüst empor, beschließt, dass er bald hinaufsteigen und mit Sagnac reden muss. Zuerst jedoch wird er den Männern Anweisung geben, die Gebeine für den abendlichen Konvoi zur Pforte zu schaffen. Danach können sie dann damit anfangen, die Eisengitter an der Vorderseite der Dachkammern der Beinhäuser herauszustemmen. Die meisten hat er schon untersucht, hat (auf einer Leiter hockend) gesehen, wie verwittert der Stein um die Eisenstangen ist, wie verrostet die Stangen selbst sind. Wenn man die Gitter entfernt, kann man die Knochen einfach aus den Dachkammern herausharken, was viel weniger mühsam ist, als sie Armvoll für Armvoll die schmalen, dunklen Treppen in die Bogengänge hinunterzutragen. Sie auf große Planen harken, bündeln und zur Pforte schleppen. Ein Esel wäre nützlich. Zwei wären noch nützlicher. Ob Louis Horatio Boyer-Duboisson wohl mit derart niedrigen Geschöpfen handelt? Schwer zu glauben, dass er es nicht tut.
    Er schart die Männer um sich. Sie kommen mit dem ihnen eigenen stetigen Schritt, die Hemdsärmel aufgekrempelt, den Kragen offen. Braune Hälse, braune Arme. Inzwischen sehen sie eher wie Bauern als wie Bergleute aus. Er beginnt – in seiner üblichen knorrigen Mischung aus Französisch und Flämisch – ihnen ihre Anweisungen zu erteilen, zu erklären, wie er sich die Sache mit den Dachkammern und den Gittern gedacht hat. Aus dem Augenwinkel sieht er Héloïse mit zwei großen Weidenkörben in den Händen vom Markt kommen. Einer der Männer, Elay Wyntère, eilt zu ihr hin, um sie ihr abzunehmen.
    »Unser Mittagessen«, sagt der Ingenieur. Er lächelt die beiden an, dann dreht er sich zur Kirche um. Einem vielfachen Aufschrei ist eine seltsame Stille gefolgt. Niemand hämmert oder sägt mehr. Die Arbeiter auf dem Dach scheinen, soweit man sie vom Boden aus sehen kann, einfach nur dazustehen und in die Kirche hinabzustarren. Zeit verstreicht. Licht fällt ein, prächtig und unveränderlich. Die Bergleute begreifen es als erste. Es gibt nichts, was die Arbeit in den Bergwerken von Valenciennes sie nicht gelehrt hätte. Die Katastrophe war als leichte Vibration durch die Stiefelsohlen und an der Stille danach spürbar. Sie rennen an dem Ingenieur vorbei, drängen sich an ihm vorbei, rennen auf die Kirche zu. Nach kurzer Verwirrung rennt er ihnen nach.
    »Was ist denn?« ruft Héloïse. Dann: »Geh nicht hinein, Jean!«
    Er ruft zurück: »Warte!«
    »Jean-Baptiste!«
    » Warte !«
    In der Kirche umstehen die Bergleute bereits eine Stelle zwischen zwei Pfeilern an der Südseite des Hauptschiffs. Jean-Baptiste muss kräftig an einem Arm ziehen, hart gegen eine Schulter stoßen, die Stimme erheben, sich energisch Durchlass verschaffen. Und da auf dem Boden in ihrer Mitte liegt bäuchlings ein Mann und unweit von ihm auf den Steinen ein Stück abgesägter Balken. Schon umgibt ein unregelmäßiger Heiligenschein aus Blut seinen Kopf, obwohl die Wunde nicht sofort auszumachen ist. Kommt es aus seinem Mund? Ist die Wunde in seinem Gesicht? Einer der Männer kauert neben dem Niedergestreckten. Jean-Baptiste kniet sich auf der anderen Seite hin.
    »Slabbart«, sagt der Bergmann.
    »Such Guillotin«, sagt Jean-Baptiste. »Hol ihn her.« Der Bergmann steht auf; die anderen geben einen Durchgang für ihn frei. Noch immer haben ihre Bewegungen etwas Dringliches, doch das liegt nur an der verwerflichen Erregung des Augenblicks. Slabbart ist ganz offensichtlich tot, muss auf der Stelle tot gewesen, von einer Sekunde auf die andere gestorben sein, hat vielleicht gerade auf einen Warnruf hin aufgeblickt, als das Holz ihn getroffen und zu Boden geschmettert hat.
    »Wer ist es?« fragt Armand, während er sich durch die Menge drängt.
    »Slabbart«, sagt Jean-Baptiste, dann blickt er zum Dach und zu den Gesichtern auf, die von den Rändern aus herabstarren. Er rappelt sich hoch. An den Knien klebt der von Blut schwarze Stoff seiner Hosen an der Haut fest. Er geht hinaus. Er ist leicht taub geworden. Er sieht Héloïse, hört aber nicht deutlich, was sie zu ihm sagt. Er beginnt, das Gerüst zu ersteigen, benutzt Leitern, wo er welche sieht, und klettert am Gestänge selbst hinauf, wenn er keine andere Möglichkeit findet. Während er mit leichtsinniger Hast immer höher hinaufsteigt, bieten sich ihm in merkwürdig gekippter Perspektive Blicke auf die Straßen jenseits der Friedhofsmauern – eine
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