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Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)

Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)

Titel: Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)
Autoren: Andrew Miller
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große Bierkutsche biegt in die Rue Troufoevache ein, eine junge Frau mit Strohhut schlendert mit einer älteren Frau dahin, eine offene Tür in der Rue des Lombards … Als er den oberen Laufgang erreicht, spannt sich der Himmel über ihm. Es ist, als wäre er aus der tiefsten Grube des Friedhofs herausgeklettert, wäre keuchend an die Oberfläche geklettert. Vor ihm entsetzte, verängstigte Gesichter. Sich abstützende Körper. Und dort drüben, auf der Steigleiter über dem Schiff, zwei Gesichter, starr vor Entsetzen über das Geschehene, starr vor Angst, starr – in den Augen des Ingenieurs – vor Schuldgefühl. Er zieht sich hinauf auf die Brüstung und rennt auf die beiden zu. Vielleicht haben sie noch nie einen Mann so auf der Krone einer schmalen Mauer fünfzig Meter über dem Boden rennen sehen. Seine Taubheit ist inzwischen vorüber. Er kann sie alle rufen hören. Ein Lärmen wie von Seevögeln. Die beiden auf dem Dach sehen mit einemmal aus, als wären sie wahnsinnig geworden. Sie rutschen über die Ziegel, kommen dem Rand, dem Absturz immer näher. Dann übertönt Sagnacs Stimme die der anderen. »Baratte! Baratte! Sie bringen die beiden um! Sie bringen sie um, verdammt noch mal!«
    Wahrscheinlich stimmt das. Sie werden abstürzen; irgendwer wird abstürzen. Abstürzen oder hinuntergeworfen werden. Ist es das, was er vorhat? Er hält inne, blickt zurück. Sagnac stakst unbeholfen durch die tiefe Rinne zwischen Dach und Brüstung. Der Steinmetz hat die Hände mit nach oben gekehrten Handtellern ausgestreckt, die Haltung – besänftigend, entwaffnend –, die man einnimmt, wenn man es mit jemandem zu tun hat, dessen Verhalten vollkommen unberechenbar ist. »Es war bloß ein Unfall«, sagt er. »Niemand wollte irgendwem Schaden zufügen. Aber ich sorge dafür, dass sie bestraft werden. Für ihren Leichtsinn. Sie haben mein Wort darauf. Sie werden ihre Lektion lernen.« Er sieht den Ingenieur an, sieht ihn angespannt an, dann senkt er die Stimme. »Um Gottes willen, Baratte. Einer von ihnen ist mein Schwiegersohn.«
    Nun, da da es stiller geworden ist, nimmt Jean-Baptiste auf einmal die Sonnenhitze wahr. Sie brennt hier oben heftig, wird dadurch verdoppelt, dass sie von den noch nicht abgenommenen Ziegeln reflektiert wird. Er kann nicht richtig in die Kirche hineinsehen, nicht sehen, wo die anderen sind, wo Slabbart ist. Der Schwiegersohn und sein Freund drücken sich aneinander wie verängstigte Kinder. Er hat jedes Interesse an ihnen verloren. Auf dem Boden, dem fernen, leuchtenden Boden, stehen Héloïse und Jeanne, zwei kleine Gestalten, im Gras am Predigerkreuz. Er nickt ihnen zu, vollführt eine kleine Bewegung mit dem Arm, eine Art Winken, und tritt dann in die Rinne.
     
    Sie wartet am Fuß des Gerüsts auf ihn, und als erstes schlägt sie ihn, ein merkwürdiger Schlag mit der Unterseite der Faust gegen seine Schulter, wie ihn nur eine Frau führt. Sie sagt nichts. Die Arme fest über den Brüsten verschränkt, lässt sie ihn stehen. Er geht in die Kirche zurück. Guillotin ist eingetroffen. Inzwischen hat man Slabbart auf den Rücken gedreht. Die Wunde – eine nässende Scharte, so lang wie der Ringfinger eines Mannes – ist fast genau an der gleichen Stelle, an der Ziguette Jean-Baptiste mit dem Lineal getroffen hat, aber das Holz ist tiefer eingedrungen als das Messing, nicht nur bis auf den Knochen, sondern bis auf das weiche Gewebe darunter, das es durchbohrt hat. Guillotin achtet darauf, mit den Schuhspitzen nicht in das Blut zu treten. Er sieht Jean-Baptiste an, macht eine fast unmerkliche Bewegung mit den Schultern.
    »Hol eine Decke«, sagt Jean-Baptiste zu dem Bergarbeiter hinter ihm. »Wickle ihn darin ein. Schaff ihn in die hintere Kapelle.« Er zeigt auf die Nordwestecke hinter der Orgel, dann bewegt er sich vorwärts, als wollte er sich erneut neben den Toten kauern oder knien, doch Hände halten ihn auf, schieben ihn weg, drücken ihn, drängen ihn aus dem Kreis. Als nächster kommt Guillotin: die gleiche ehrerbietige Kraft. Nach ihm Armand. Der Kreis schließt sich.
    Ein paar Sekunden lang stehen die Ausgeschlossenen, eben noch Herren, stumm und verlegen hinter den Rücken der Bergleute; dann verlassen sie zusammen die Kirche, treten hinaus in das grelle Morgenlicht.
    »Haben sie eine Religion?« fragt Guillotin.
    Jean-Baptiste schüttelt den Kopf. Sein Mund ist knochentrocken, sein Herz pocht noch von der Kletterei. »Bei den Bergwerken gab es eine Kirche, aber keiner von ihnen
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