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Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)

Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)

Titel: Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)
Autoren: Andrew Miller
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Augen und Ohren an. Sind das Stimmen, was sie da hören können, Stimmen, die an den Dachbalken vorbei zu ihnen dringen?«
    »Wenn wir schon hineinwollen«, flüstert Armand, »dann tun wir’s doch in Gottes Namen endlich.«
    Die sonst den ganzen Tag offene Westtür ist jetzt geschlossen. Jean-Baptiste hebt den Riegel, drückt gegen das eisenbeschlagene Holz. Vier Schritte, dann sind sie durch die Vorhalle. Dann eine zweite Tür mit zerschlissenen Lederklappen über den Angeln. Sie geht ganz leise auf, doch die beiden haben sofort den Eindruck – die Gewissheit –, dass das, was in der Kirche im Gang war, unterbrochen worden ist. Ein Dutzend Lichtpunkte lässt erkennen, wo die Bergleute sich um den Stapel der Bänke im Mittelschiff aufgestellt haben. Der erste, den der Ingenieur erkennt, ist Jacques Everbout. Hinter ihm – wer ist das? – Rave? Dann links von ihm Dagua, Jorix, Agast. Keiner von ihnen rührt sich. Alle beobachten die Neuankömmlinge, beobachten sie genau.
    »Riechen Sie das?« fragt Armand.
    »Was?«
    »Alkohol. Es stinkt hier geradezu danach.«
    »Das ist Äthanol«, sagt Jean-Baptiste. Er deutet mit dem Kinn auf zwei der großen, korbummantelten Krüge, die mit aufgerissenem Verschluss nebeneinander bei den Bänken stehen.
    Eine Bewegung … Ein Mann tritt vor, kommt auf beinahe gemächliche Weise hinter den anderen hervor. Eine Gestalt in Weiß. Weißes Hemd, weiße Hosen, weißes Tuch um den Hals. Er nähert sich ihnen bis auf wenige Schritte, wie ein Parlamentär. Sein von der Kerze des hinter ihm Stehenden geworfener Schatten streckt sich über den Steinboden bis vor die Füße des Ingenieurs. Es ist der Bergmann, dem der halbe Finger fehlt. Der Bergmann mit den violetten Augen. Der einzige, den Lecoeur nicht gekannt hat. Hoornweder? Lampsins? Wie auch immer er heißt, es steht außer Frage, dass er hier der Herr ist.
    »Wir hatten nicht die Absicht«, beginnt Jean-Baptiste, der mit Mühe seine Stimme findet, »euch zu stören. Wir haben Lichter gesehen. Ich wollte –«
    »Ist das Slabbart?« fragt Armand. Er deutet auf eine zusammengeschnürte Form, die auf einer Bank oben auf den Haufen liegt.
    Der Bergmann in Weiß nickt. »Unser Bruder ist heute ums Leben gekommen«, sagt er. »Heute nacht werden wir uns von ihm verabschieden.«
    »Verabschieden?« fragt Jean-Baptiste. »Wo bringt ihr ihn denn hin?«
    »Er ist da, wo er sein muss«, sagt der Bergman. »Wir werden uns hier von ihm verabschieden.« Er sieht den Ingenieur an, wartet geduldig darauf, dass er versteht, dass er die einzelnen Elemente zusammenfügt – die Nacht, das Äthanol, den eingehüllten Leichnam …
    »Ihr wollt ihn verbrennen? Hier?«
    »Dieser Ort hat ihn umgebracht«, sagt der Bergmann. »Unseren Bruder. Wir wollen mit diesem Ort nichts mehr zu tun haben.«
    »Aber wenn ihr ihn hier verbrennt, brennt ihr die Kirche nieder!« sagt Jean-Baptiste. »Ihr könntet das ganze Viertel niederbrennen!«
    »Nur die Kirche wird brennen«, sagt der Bergmann. »Auf alles andere werden wir achtgeben.«
    »Sobald die Kirche brennt, kann das niemand mehr kontrollieren …«
    »Mit Feuer kennen wir uns aus«, sagt der andere. »Das ist etwas, worüber wir Bescheid wissen.«
    »Und was ist mit Jeanne und ihrem Großvater?«
    »Ich werde sie herausholen«, sagt eine andere Stimme, eine Stimme, die der Ingenieur sofort erkennt. Jan Block.
    »Hört«, sagt Jean-Baptiste, heftig um einen neuen Ton, etwas Besseres als bloße Ungläubigkeit bemüht. »Euer Bruder, der heute hier gestorben ist. Das tut mir leid. Wirklich leid. Der Steinmetz hat versprochen, dass diejenigen, deren Leichtsinn den Unfall verursacht hat, bestraft werden. Er hat mir sein Wort gegeben. Vielleicht gibt es sogar … eine Entschädigung.«
    »Was der Steinmetz tut«, sagt der Bergmann, »ist seine Sache. Das geht uns nichts an.«
    »Aber warum das? Warum alles riskieren?«
    »Sie gehen doch auch Risiken ein. In der Nacht, in der Sie Monsieur Lecoeur in das Beinhaus gefolgt sind, sind Sie ein Risiko eingegangen, oder nicht? Und damit, dass Sie heute nacht hierhergekommen sind, auch.«
    »Lassen Sie sie«, flüstert Armand aufgeregt. »Sie haben hier keine Autorität mehr. Die Männer werden nicht auf Sie hören. Das alles ist vorbei.«
    Der Bergmann hat sich von ihnen abgewandt. Er erteilt Befehle. Er spricht jetzt in seiner Muttersprache. Er hebt die Stimme nicht. Aus der Kapelle, in der die Krüge gelagert waren, wird noch mehr Äthanol herangeschafft. Die Männer
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