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Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)

Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)

Titel: Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)
Autoren: Andrew Miller
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reißen die Verschlüsse auf, gießen die Flüssigkeit über das Holz. Für den letzten Akt erklettern zwei Bergleute den Holzstapel und gießen den letzten halben Krug über den eingehüllten Leichnam. Als sie herunterkommen, bedeutet der Bergmann in Weiß allen, weiter zurückzutreten. Er spricht – ein Gebet oder irgendein zeremonielles Lebewohl –, dann nimmt er dem neben ihm Stehenden die Kerze aus der Hand, tritt auf die Bänke zu, bleibt stehen, sieht den Ingenieur an, nimmt sich eine zweite Kerze und geht zu ihm.
    »Zusammen«, sagt er.
    »Was?«
    »Zusammen.«
    »Die Kirche niederbrennen? Sich zum Komplizen machen?«
    »Nun nehmen Sie schon die verdammte Kerze«, sagt Armand, dessen Körperhaltung verrät, dass er bereit – ja erpicht darauf – ist, die Kerze selbst zu nehmen. »Nehmen Sie sie, bevor er uns nach oben zu dem armen Slabbart befördert.«
    Am Ende ist es gar nicht so schwer. Er schaut dem Bergmann in die Augen, in ihre kühlen violetten Tiefen, sieht keinerlei Drohung, keinerlei Gefahr darin. Was sieht er dann? Vernunft? Philosophie? Wahnsinn? Oder bloß sich selbst, seine eigenen Augen, das Spiegelbild seines eigenen Blicks? Er greift nach der Kerze. In dem Augenblick, in dem er sie ergreift, die Faust darum schließt, gewinnt alles den Charakter eines Rituals, von etwas Geprobtem, etwas, das seinen eigenen unaufhaltsamen Gang nimmt. Zusammen gehen sie zu dem Scheiterhaufen, stehen vor dem Holz, das in sechs- oder siebenfacher Mannshöhe vor ihnen aufragt. Der Bergmann holt als erster aus, und seine Kerze landet in der oberen Hälfte des Stapels. Nach einem letzten kurzen Zögern wirft Jean-Baptiste die seine, die etwas darunter auftrifft. Eine Weile brennen die Kerzen ganz ruhig, und es sieht fast so aus, als würden sie demnächst verlöschen, doch dann facht ein durch das Dach einfallender Wirbel von Nachtluft sie an, und von ihren Spitzen schießen blaue Flammen auf, rasen nach oben, sammeln sich um Slabbarts Decke und rasen, den Spuren des Äthanols folgend, wieder nach unten bis auf den Steinboden, zu den Krügen selbst, die sich augenblicklich mit strudelnden blauen Flammen füllen.
    Was habe ich getan? denkt Jean-Baptiste. Was habe ich getan! Dennoch ist ihm eher nach Lachen zumute, ist ihm zumute, als hätte er nicht nur diese verhasste Kirche angesteckt, sondern alles, was ihn jemals, ob grob oder subtil, geknechtet hat. Lafosse, den Minister, den grinsenden Comte de S-. Seinen eigenen Vater. Seine eigene Schwäche und Verwirrung …
    Sie stehen da; sie sehen zu. Das seit Wochen in der Sommersonne gedörrte Holz beginnt zu knacken und aufzulodern. Momentweise scheint die Luft selbst zu brennen. Dann kommt es zu einer kleinen Explosion – einer der Krüge? –, und die Bergleute gehen hinaus, machen sich rasch und leise davon. Noch erfolgt kein Triumphgeschrei. Das Feuer muss geheimgehalten werden, bis es nicht mehr aufgehalten werden kann. Das wird nicht lange dauern.
    Armand packt Jean-Baptiste am Arm, reißt ihn aus seiner Träumerei. »Colbert«, sagt er.
    »Colbert? Wir wissen ja nicht einmal, ob er überhaupt da ist!«
    »Es gibt Zimmer«, sagt Armand. »Hinter dem Altar.«
    Sie gehen um die brennenden Bänke herum, überspringen kleine Bäche aus flackerndem Äthanol, durchqueren den Chor, passieren den Altar. Zur Rechten zwei Türen. Hinter der ersten Dunkelheit: ein kleines Zimmer, das rasch durchsucht ist. Die zweite Tür ist verschlossen. Sie hämmern dagegen, rufen den Namen des Priesters. Sie werfen sich dagegen, treten dagegen.
    »Nehmen Sie das hier!« ruft Armand und macht sich daran, eine Holzstatue zu kippen, eines der Stücke, das zu stehlen sich niemand die Mühe machte, eine plump gestaltete Jeanne d’Arc in hölzerner Rüstung, ein Kreuz wie einen Blumenstrauß vor sich haltend. Beim zweiten Schlag bekommt die Tür einen Riss. Beim dritten fliegt sie auf.
    »Er ist hier«, sagt Armand zurückschaudernd. »Es stinkt wie ein Fuchsbau.«
    Der Feuerschein hilft ihnen, sich zu orientieren, das und ihre tastenden Hände. In der hinteren Zimmerwand ist eine weitere Tür, ebenfalls verschlossen, die auf die Straße führt. Es ist Jean-Baptiste, der den Priester findet, einen verschwommenen Fleck gekräuseltes Weiß auf einem Bett an der Seitenwand ausmacht. Die Haut ist klamm – trägt den Tau des Fiebers oder des Hungers –, aber es ist nicht die Haut eines Toten. Gemeinsam heben sie ihn hoch, tragen ihn wie einen Sack Hafer. Außerhalb des Zimmers können sie
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