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Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)

Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)

Titel: Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)
Autoren: Andrew Miller
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mit einem Knacken wie beim Bruch jener Siegel, die man an den Türen verseuchter Häuser anbringt. Eine Gestalt, ein Diener oder Sekretär, eckig, mit gelben Augen, bedeutet ihm mit einem leichten Heben des Kinns, dass er jetzt vorgelassen wird. Er rappelt sich hoch. Der Ältere hat die Augen aufgeschlagen. Sie haben kein Wort miteinander gewechselt, wissen nicht, wie der jeweils andere heißt, und es verbindet sie nichts außer drei kalten Stunden an einem Oktobervormittag. Der Ältere lächelt. Es ist der schicksalergebenste, eleganteste Ausdruck der Welt; ein Lächeln, das wie die Blüte ausgedehnter, selbstgenügsamer Gelehrsamkeit erscheint. Der Jüngere nickt ihm zu und schlüpft dann rasch durch die halboffene Bürotür, als fürchtete er, sie könnte wieder vor ihm zugeschlagen werden, plötzlich und für immer.

2
     
    » DER HEILIGE AUGUSTINUS «, sagt der Minister, der eine halb gegessene Makrone zwischen zwei Fingern hält, »lehrt uns, dass die den Toten geschuldeten Ehren hauptsächlich dazu dienten, die Lebenden zu trösten. Nur das Gebet sei wirksam. Wo man den Leichnam beisetze, sei belanglos.« Er widmet sich wieder der Makrone, stippt sie in ein Glas Weißwein, lutscht daran. Ein paar Krümel fallen auf die Papiere, die sich auf seinem riesigen Schreibtisch stapeln. Der Diener, der hinter dem Stuhl seines Herrn steht, betrachtet die Krümel mit so etwas wie berufsbedingtem Kummer, macht aber keine Anstalten, sie zu entfernen.
    »Er war Afrikaner«, sagt der Minister. »Der heilige Augustinus. Er muss Löwen und Elefanten gesehen haben. Haben Sie schon einmal einen Elefanten gesehen?«
    »Nein, Exzellenz.«
    »Es gibt hier einen. Irgendwo. Ein großes, melancholisches Tier, das von Burgunder lebt. Ein Geschenk des Königs von Siam. Als es zur Zeit des Großvaters Seiner Majestät hier eintraf, versteckten sich sämtliche Hunde im Palast einen Monat lang. Dann gewöhnten sie sich an ihn und begannen, ihn zu verbellen und zu hetzen. Wäre er nicht an einen versteckten Ort gebracht worden, hätten sie ihn vielleicht getötet. Fünfzig von ihnen hätten es vielleicht fertiggebracht.« Über den Schreibtisch hinweg sieht er den jungen Mann an und hält kurz inne, als wären der Elefant und die Hunde vielleicht auch Gestalten einer Parabel. »Wo war ich stehengeblieben?« fragt er.
    »Beim heiligen Augustinus?« sagt der junge Mann.
    Der Minister nickt. »Erst die mittelalterliche Kirche hat die Praxis eingeführt, die Toten in Kirchen beizusetzen, und zwar damit sie den Reliquien der Heiligen nahe waren. Wenn eine Kirche voll war, begrub man sie im Boden drumherum. Honorius von Autun nennt den Friedhof ein geheiligtes Dormitorium, den Schoß der Kirche, ecclesiae gremium . Was meinen Sie, wann haben sie begonnen, uns an Zahl zu übertreffen?«
    »Wer, Exzellenz?«
    »Die Toten.«
    »Ich weiß nicht, Exzellenz.«
    »Schon früh, denke ich. Schon früh.« Der Minister isst seine Makrone auf. Der Diener reicht ihm ein Tuch. Der Minister wischt sich die Finger, setzt sich eine Brille mit runden Gläsern auf und liest das Schriftstück, das auf dem Stapel vor ihm liegt. Im Raum ist es wärmer als im Vorzimmer, wenn auch nur geringfügig. Im Kamin knistert ein kleines Feuer, von dem sich ab und zu ein Rauchfaden ins Zimmer krümmt. Abgesehen vom Schreibtisch gibt es nicht viele Möbel. Ein kleines Porträt des Königs. Ein weiteres Gemälde, das offenbar die letzten Augenblicke einer Wildschweinhatz darstellt. Ein Tisch, auf dem eine Karaffe und Gläser stehen. Am Kamin ein Nachttopf aus dickem Porzellan. Unter dem Fenster aufgespannt ein Schirm aus geölter Seide. Durch das Fenster selbst ist nichts als der zerwühlte graue Bauch des Himmels zu sehen.
    »Lestingois«, sagt der Minister, der von dem Schriftstück abliest. »Sie sind Jean-Marie Lestingois.«
    »Nein, Exzellenz.«
    »Nein?« Der Blick des Ministers richtet sich wieder auf den Stapel, er zieht ein zweites Blatt heraus. »Dann Baratte. Jean-Baptiste Baratte?«
    »Ja, Exzellenz.«
    »Eine alte Familie?«
    »Die Familie meines Vaters lebt schon seit mehreren Generationen in der Stadt, in Bellême.«
    »Und Ihr Vater ist Handschuhmacher.«
    »Handschuhmachermeister, Exzellenz. Und wir haben ein wenig Land. Etwas über vier Hektar.«
    »Vier?« Der Minister gestattet sich ein Lächeln. Etwas Puder von seiner Perücke hat die Seide auf seinen Schultern weiß bestäubt. Sein Gesicht, denkt Jean-Baptiste, liefe, wenn es noch ein Stückchen nach vorn
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