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Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)

Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)

Titel: Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)
Autoren: Andrew Miller
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hat sich je dort blicken lassen. Unter den Vorarbeitern war man der Ansicht, dass sie an nichts glauben.«
    »Es gibt keinen Menschen auf der Welt, der nicht an irgend etwas glaubt«, sagt Guillotin.
    »Ich brauche etwas zu trinken«, sagt Armand.
    »Ich schließe mich Ihnen gern an«, sagt Guillotin. »Und Sie, mein lieber Ingenieur, sollten unbedingt auch ein Glas zu sich nehmen. Oder am besten zwei bis drei.«
    »Wenn ich Lafosse davon erzähle«, sagt Jean-Baptiste, »wird er mir befehlen, ihn hier zu begraben.«
    »Wie unseren alten Freund«, sagt Armand leise.
    »Ah, Sie sprechen von Monsieur Lecoeur?« fragt Guillotin und beäugt sie beide über seine Hakennase hinweg. »Ich hatte mich schon gefragt, ob er hier ist. Weiß Jeanne davon?«
    Der Ingenieur schüttelt den Kopf, blickt zum Kirchendach auf. Was machen sie da oben? Herumsitzen? Reden? Warten?
    »Man könnte den Toten auf dem Friedhof von Clamart begraben«, sagt Guillotin. »Inzwischen werden die meisten von denen, die nach Les Innocents gekommen wären, dort beigesetzt. Ein durchaus anständiger Ort. Und dann gäbe es noch den protestantischen Friedhof in Charenton. Wenn das angemessener ist.«
    »Ich werde sie fragen«, sagt Jean-Baptiste. »Ich werde mich nach ihren Wünschen richten.«
    »Um meine Orgel habe ich geweint«, sagt Armand, »aber jetzt sind meine Augen trocken. Ich weiß nicht, zu was für einem Menschen mich das macht.«
    »Im Abstrakten gibt es keine Trauer«, sagt der Arzt. »Was hat er Ihnen bedeutet? Oder überhaupt einem von uns? Ah, da kommen die Frauen.« Er reibt sich die Hände, lächelt den sich nähernden Gestalten von Jeanne, Héloïse und Lisa entgegen. »Sie werden wissen, was zu tun ist«, sagt er. »Sie werden Einsichten haben.«
     
    Die Einsicht der Frauen – zumindest die von Lisa Saget – besteht darin, das Essen zuzubereiten. Ochsenschwanzeintopf. Zwanzig Laib Brot, altbacken genug, um die Brühe aufzusaugen. In den Beinhäusern gekühlter Wein.
    Bis ein Uhr, als Lisa gegen den Topf schlägt, hat Sagnac seine Leute abgezogen, sie in aller Stille durch die Pforte zur Rue de la Ferronnerie weggeführt. Die Bergleute kommen ganz zahm im Gänsemarsch aus der Kirche. Nichts in ihrem Verhalten und ihren Stimmen lässt darauf schließen, dass etwas nicht in Ordnung ist. Sie holen ihre Blechnäpfe, ihre Utensilien, bilden am Küchenanbau eine Warteschlange, gehen mit ihrem Essen zum Predigerkreuz, setzen sich hin und essen.
    »Es tut mir leid, Jean«, sagt Héloïse zu Jean-Baptiste, während sie für sich im Schatten des Küsterhauses stehen. »Aber du hast mir solche Angst eingejagt. Ich glaube, nicht einmal Ragoût würde so auf einer Mauer entlangrennen.«
    »Dann tut es mir auch leid«, sagt er. »Aber wenn man auf solche Weise einen Mann verliert …«
    »Es war doch ein Unfall?«
    »Etwas anderes werden wir nie beweisen können.«
    »Und was wirst du mit ihm machen?«
    »Mit Slabbart? Heute nacht kann er in der Kirche bleiben, aber morgen müssen wir etwas unternehmen. Bei dieser Hitze …«
    »Hatte er Familie? Eine Frau vielleicht? Kinder?«
    »Ich weiß nicht. Ich werde es herausfinden.«
    »Man könnte ihnen etwas Geld geben.«
    »Geld!«
    »Geld würde ihnen helfen, Jean. Etwas anderes kannst du ihnen gar nicht geben.«
     
    Der lange Sommernachmittag. Über dem Friedhof, über dem ganzen Viertel eine große Stille. Der Himmel hoch und fahl, ein paar Wolkenbäusche, dann gleitet die Sonne der Rue de la Lingerie entgegen, und sobald sie hinter die Dachgrate getaucht ist, kommt eine verstohlene, erfrischende Kühle auf. Dick und orange erscheint der Mond. Die Karren kommen vom Steinbruch. Die Männer, die den größeren Teil des Nachmittags neben ihren Zelteingängen verbracht haben, machen sich ohne Groll, ohne unterschwelliges Murren an die Arbeit, die Jean-Baptiste einstellen lässt, sobald nach seiner Einschätzung so viele Gebeine verladen sind, dass der Aufseher an der Porte d’Enfer keine abfälligen Bemerkungen über Faulpelze auf dem Friedhof machen kann. Die Priester setzen sich in Marsch; die Säume ihrer Soutanen sind weiß von Staub. Ihr Gesang ist abgerissen, uninspiriert. Vielleicht würden sie, wenn es nach ihnen ginge, jeden Knochen in die Seine kippen. Der August in Paris ist kein frommer Monat.
    Es ist kurz vor elf, ehe Héloïse, Armand, Lisa und Jean-Baptiste den Friedhof verlassen. Guillotin ist längst gegangen, und Jeanne und ihr Großvater sind nicht aufgefordert worden, sich
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