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Das Buch der Illusionen

Das Buch der Illusionen

Titel: Das Buch der Illusionen
Autoren: Paul Auster
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Der Mensch hat nicht nur ein Leben.
    Er hat viele Leben, eins am anderen,
    und das ist die Ursache seines Unglücks.
    (Chateaubriand)
1
    Alle dachten, er sei tot. Als 1988 mein Buch über seine Filme erschien, hatte man von Hector Mann seit fast sechzig Jahren nichts mehr gehört. Abgesehen von einer Handvoll Historiker und alten Filmfreaks schienen nur wenige Leute zu wissen, dass er überhaupt einmal gelebt hatte. Doppelt oder nichts, die letzte der zwölf kurzen Filmkomödien, die er am Ende der Stummfilmzeit produziert hatte, erlebte ihre Premiere am 23. November 1928. Zwei Monate später verließ er, ohne sich von einem seiner Freunde oder Mitarbeiter zu verabschieden, ohne einen Brief zu hinterlassen oder jemanden von seinen Plänen zu unterrichten, das von ihm gemietete Haus am North Orange Drive und ward nicht mehr gesehen. Sein blauer DeSoto stand in der Garage; der Mietvertrag galt noch für drei Monate; die Miete war vorausbezahlt. Lebensmittel lagerten in der Küche, Whiskey stand in der Hausbar, in seinen Schlafzimmerschränken fehlte nicht ein einziges Kleidungsstück. Dem Los Angeles Herald Express vom 18. Januar 1929 zufolge sah es so aus, als sei er lediglich zu einem kurzen Spaziergang aufgebrochen und werde jeden Augenblick zurückkommen. Aber er kam nicht zurück, und von da an war es, als sei Hector Mann wie vom Erdboden verschluckt.
    Nach seinem Verschwinden zirkulierten ein paar Jahre lang diverse Geschichten und Gerüchte über sein Schicksal, aber bei diesen Mutmaßungen kam nie etwas heraus. Die Plausibelsten - dass er Selbstmord begangen habe, dass er einem Verbrechen zum Opfer gefallen sei - ließen sich weder beweisen noch widerlegen, da seine Leiche niemals gefunden wurde. Andere Berichte über Hectors Schicksal waren phantasievoller, optimistischer und passten besser zu den romantischen Implikationen eines solchen Falls. Zum Beispiel sollte er in sein Geburtsland Argentinien zurückgekehrt und dort Besitzer eines kleinen Provinzzirkus sein. Oder er sei in die Kommunistische Partei eingetreten und beschäftige sich unter falschem Namen damit, die Molkereiarbeiter in Utica, New York, zu organisieren. Oder er sei als Opfer der Wirtschaftskrise unter den Landstreichern gelandet. Wäre Hector ein größerer Star gewesen, hätten sich solche Geschichten zweifellos noch lange gehalten. Er hätte in den Dingen weitergelebt, die man sich von ihm erzählte, und wäre nach und nach zu einer jener Symbolfiguren geworden, die die Niederungen der kollektiven Erinnerung bewohnen, eine Metapher für Jugend und Hoffnung und die teuflischen Wendungen des Schicksals. Aber nichts von alledem geschah, denn tatsächlich hatte Hector eben erst angefangen, Hollywood seinen Stempel aufzudrücken, als seine Karriere so plötzlich wieder endete. Er war zu spät gekommen, um sein Talent voll zur Geltung zu bringen, und er war nicht lange genug geblieben, um einen dauerhaften Eindruck von dem zu hinterlassen, was er war und was er konnte. Noch ein paar Jahre vergingen, dann hatten die Menschen ihn vergessen. Bereits 1932, 1933 gehörte Hector einem erloschenen Universum an, und falls noch Spuren von ihm übrig waren, dann allenfalls in Form von Fußnoten in obskuren Büchern, die niemand mehr lesen wollte. Der Film hatte das Sprechen gelernt, die flackernden Stummfilme der Frühzeit waren in Vergessenheit geraten. Keine Clowns mehr, keine Pantomimen, keine hübschen Pagenköpfe, die zu den Rhythmen unhörbarer Orchester tanzten. Sie waren erst vor wenigen Jahren ausgestorben, wurden aber schon als prähistorisch empfunden, ähnlich wie die Wesen, die über die Erde streiften, als die Menschen noch in Höhlen lebten.
    In meinem Buch war ich kaum auf Hector Manns Leben eingegangen. Die stumme Welt des Hector Mann war ein Werk über seine Filme, keine Biografie, und was ich an unbedeutenden Fakten über seine außerfilmischen Aktivitäten einstreute, hatte ich unmittelbar den üblichen Quellen entnommen: Filmenzyklopädien, Memoiren, Büchern über die Frühzeit Hollywoods. Ich schrieb das Buch, weil ich meine Begeisterung über Hectors Filme vermitteln wollte. Die Geschichte seines Lebens war für mich zweitrangig, und statt darüber zu spekulieren, was aus ihm geworden oder nicht geworden sein mochte, konzentrierte ich mich nahezu ausschließlich auf die Interpretation seiner Werke. In Anbetracht der Tatsache, dass er im Jahre 1900 geboren worden war und dass man ihn seit 1929 nicht mehr gesehen hatte, wäre es mir
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