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Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)

Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)

Titel: Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)
Autoren: Andrew Miller
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kommt, stieben sie in die Luft. Ein Mann erscheint, bleibt bei der Laube stehen, betrachtet Jean-Baptiste über den Rand des Tuches hinweg, das er sich um Nase und Mund geschlungen hat, spricht ein paar gedämpfte, unverständliche Worte und rennt weiter. Ein paar Sekunden später kommt ein zweiter Mann, ebenfalls maskiert, ebenfalls im Laufschritt. Dann ein dritter, dieser mit einer Art Lederhaube mit spitzem Schnabel, wie sie die Männer zu tragen pflegten, die zu Zeiten der Pest die Häuser durchsuchten. Nachdem ein vierter vorbeigerannt ist, steht Jean-Baptiste auf, um ihnen zu folgen. Es ist, als folgte man Bienen zu ihrem Stock. Jedesmal, wenn er an eine Weggabelung kommt und sich nicht sicher ist, welche Richtung er einschlagen soll, muss er nur einen Augenblick warten, bis noch jemand an ihm vorbeirennt. Zwanzig Minuten lang spielt er dieses Spiel, bewegt sich, immer wieder innehaltend, durch ein Labyrinth aus hohen Hecken, bis er zu einer Pforte in einer Ziegelsteinmauer gelangt, hinter der ein sandbestreuter Hof liegt. Auf der anderen Seite des Hofes steht eine große Remise aus Stein, die Art von Gebäude, wie man sie etwa zur Unterbringung besserer Kutschen verwendet, der Sorte von Kutschen, die es in Versailles sehr häufig gibt.
    Mit dem Rücken zu den Ziegelsteinen sieht er hin. Es ist die offene Flügeltür der Remise, durch die die maskierten Männer verschwinden. Einige von ihnen tauchen wieder auf, kommen herausgerannt und lehnen sich nach Luft schnappend an die Wand, ehe sie wieder hineintrotten. Einer, ein Junge in Blau, wankt zu einem Pferdetrog, reißt sich die Maske herunter und erbricht sich.
    Dies ist eindeutig der Augenblick, da er gehen müsste. Und ebenso eindeutig kann er unmöglich gehen, ohne zu wissen, was in der Remise ist. Er tritt näher, schlägt einen Bogen, der ihn seitlich an die Tür heranführt, und tritt dann in die Düsternis dahinter. In der Mitte der Remise, im schattenhaften Durcheinanderwogen in der Mitte, ziehen maskierte Männer an Seilen. Vier Gruppen von Männern, vier dicke Seile. Und am Ende der Seile befestigt etwas Graues, Riesiges und Einsames. Jedesmal, wenn die Männer ziehen und die graue Masse erschüttert wird, ertönt ein Klingeln, als würden hundert kleine Glöckchen angeschlagen. Beaufsichtigt wird das alles, das Ziehen, von einem Mann auf einem umgedrehten Eimer. Er bemerkt Jean-Baptiste erst, als dieser sich so nahe herangeschlichen hat, dass er endlich begreift, was die Männer von der Stelle zu bewegen versuchen, den gewaltigen, vom Tod aufgetriebenen Rumpf in seinem Nest aus leeren Weinflaschen sieht, ein stumpfes Auge, so groß wie ein Suppenteller, den feingeäderten Rand eines Ohrs, einen gebogenen gelben Stoßzahn … Dann brüllt der Aufseher auf ihn ein, sein Atem schnaubt durch das Tuch vor seinem Mund. Er zeigt auf das herabbaumelnde Ende des nächsten Seils. Er rudert mit den Armen: Verzweiflung als Zorn. Mehrere Sekunden lang blickt Jean-Baptiste zu ihm auf, empfindet ein schreckliches brüderliches Mitleid mit ihm, einen schrecklichen brüderlichen Abscheu. Dann wendet er sich von ihm ab, wischt sich die Fliegen vom Gesicht und eilt zurück zu jener sanften Linie am Rand der Remise, wo das Licht beginnt.

Anmerkung des Autors
     
    Beim vorliegenden Buch handelt es sich um ein fiktives Werk, das Tatsächliches mit Erfundenem kombiniert, wenngleich es die Kirche und den Friedhof der Unschuldigen natürlich gegeben hat, und zwar in ganz ähnlicher Form, wie sie in der Geschichte dargestellt werden. Heute allerdings sieht man von dem Friedhof nur noch einen kleinen, von Restaurants und Fastfoodläden umgebenen Platz in der Nähe der unterirdischen Einkaufspassage von Les Halles. Der alte Brunnen, der italienische Brunnen, wurde im neunzehnten Jahrhundert in die Mitte des Platzes verlegt, wo er als Treffpunkt dient, als Ort, wo müde Käufer sich hinsetzen und ausruhen können. Die Gebeine aus dem Friedhof kann man in den Katakomben von Paris besichtigen, wo sich ihnen später noch die Gebeine anderer Friedhöfe zugesellten: unzählige menschliche Überreste, aufgereiht entlang Tausenden von Metern triefender Laufgänge tief unter dem Verkehr der Stadt. Opfer des Terreur, welcher der Zerstörung von Les Innocents binnen weniger Jahre folgte, sind angeblich auch in den alten Schächten verborgen. Über dem Eingang zu den Katakomben ist eine Inschrift eingemeißelt. Sie lautet: »Arrête! C’est ici l’Empire de la Mort.«

 
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