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Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)

Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)

Titel: Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)
Autoren: Andrew Miller
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anzuschließen: Es ist spät, und natürlich kann jetzt kein Konzert, keine Lustbarkeit mehr stattfinden. Armand schlägt vor, in den Palais Royal zu gehen, sich irgendeine Ecke zu suchen, in der sie sich niederlassen können, und wie Soldaten zu trinken. Héloïse erhebt Einwände. Der Palais mit seiner unerbittlichen Ausgelassenheit wird ihnen bloß unangenehm sein. Sie können zu Hause trinken. Die Monnards werden aller Wahrscheinlichkeit nach schon zu Bett gegangen sein, und in der Küche gibt es Schnaps, außerdem eine Flasche Eau de vie im ersten Stock. Und Wein natürlich, Monsieur Monnards Wein. Sollte das nicht reichen?
    Sie gehen zum Haus. Die Luft im Eingangsflur ist stickig wie Filz, im ganzen Haus ist es dunkel und still. Die Monnards sind tatsächlich schon schlafen gegangen. Marie ebenfalls, obwohl sie den Schnaps offenbar mit ins Bett genommen hat, vielleicht gegen ihre Erkältung. Héloïse holt den Eau de vie. Im Wohnzimmer gießt Armand vier Gläser halb voll mit Wein und füllt dann mit dem Obstbrand auf. »Jetzt schmeckt es vielleicht wie Wein«, sagt er. »Auf Slabbart.« Sie heben ihr Glas, trinken.
    »Wie hieß er eigentlich mit Vornamen?« fragt Héloïse.
    »Joos«, sagt Jean-Baptiste.
    »Joos«, wiederholt Héloïse leise.
    »Spiel für uns, Armand«, sagt Lisa.
    Armand schüttelt den Kopf. »Bei Musik kommen neue Gefühle ins Spiel. Wir sollten bei denen bleiben, die wir haben.«
    »Spiel trotzdem«, sagt sie, berührt seine Hand und streicht über die roten Härchen auf seinen Fingern.
    Er zuckt die Achseln, setzt sich auf den Hocker, durchblättert die Noten auf dem Ständer – die Stücke, die Signor Bancolari Ziguette Monnard beizubringen versuchte –, lässt sie dann auf den Boden fallen und beginnt etwas Langsames aus dem Gedächtnis.
    »Es ist schon verstimmt«, sagt er. »Alles ist mindestens einen Halbton zu tief.«
    »Es ist wunderschön«, sagt Héloïse. »Bitte hören Sie nicht auf.«
    Jean-Baptiste ist ans Fenster getreten. Mit verschränkten Armen steht er da und schaut hinaus. Da sie nur zwei Kerzen im Zimmer haben, die beide auf dem Klavier stehen, kann er ohne große Schwierigkeiten hinaussehen. Der Mond steht mittlerweile hoch, fast direkt über ihnen, kleiner und nicht mehr orange. Armand spielt mehrere Minuten lang, ein Stück, das eher schön als traurig ist, aber nur ein bisschen.
    Als es vorbei ist, sagt Jean-Baptiste: »Sie sind in die Kirche gegangen.«
    »Die Bergleute?« fragt Héloïse.
    »Ja.«
    »Eine Nachtwache«, sagt Armand.
    »Vergesst sie einen Augenblick«, sagt Lisa. »Lasst sie in Frieden.«
    Jean-Baptiste nickt, gesellt sich den anderen am Klavier zu.
    Armand beginnt ein neues, lebhafteres Stück. »Erinnern Sie sich an das Stück, das wir gesehen haben?« fragt er. »Die Geschichte über Herren und Diener? Das hier ist die Oper.«
    Er spielt die Ouvertüre und zwei, drei von den Arien. Wie er vorhergesagt hat, kommen neue Gefühle ins Spiel. Die Atmosphäre ändert sich, wird – auf eine aufgewühlte, melancholische, vom Alkohol angeregte Weise – beinahe fröhlich. Als er innehält, klatschen die Frauen Beifall. Er verbeugt sich vor ihnen.
    »Sie sind immer noch da«, sagt Jean-Baptiste, den es während der letzten Arie wieder ans Fenster getrieben hat. »Es gibt Licht. Feuer.«
    Armand steht vom Hocker auf, stellt sich neben ihn. »Sie können nicht erwarten, dass sie im Dunkeln herumstehen«, sagt er.
    »Was wissen Sie von ihnen?« fragt Jean-Baptiste leise.
    »Genauso viel und genauso wenig wie Sie. Sie sind so geheimnisvoll wie Aale.«
    »Ich möchte es sehen«, sagt Jean-Baptiste.
    »Sehen? Was denn sehen?«
    »Er möchte sehen, was sie tun«, sagt Héloïse. »Machst du dir Sorgen, Jean?«
    »Aber was für einen Schaden können sie denn mitten in der Nacht in einer zerstörten Kirche anrichten?« fragt Lisa.
    »Ich habe keine Ahnung«, sagt Jean-Baptiste und nimmt seinen Hut vom Tisch. »Ich werde nicht lange bleiben.«
    »Geh mit ihm«, sagt Lisa zu Armand.
    »Wie du wünschst, mein Täubchen«, sagt Armand und verdreht die Augen. Er hat keinen Hut. Er folgt dem Ingenieur aus dem Zimmer. Die Frauen sehen einander an.
     
    »Was sind wir jetzt?« fragt Armand, während sie im Schatten der Friedhofspforte stehenbleiben. »Spione?«
    »Pst«, sagt Jean-Baptiste. »Pst.«
    Durch das Gras bewegen sie sich auf die Kirche zu. In den Fensterscheiben über der Westtür wabert ein Lichtschein. Beim Predigerkreuz bleiben sie erneut stehen, strengen
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