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French 75: Ein Rostock-Krimi

French 75: Ein Rostock-Krimi

Titel: French 75: Ein Rostock-Krimi
Autoren: Richard R. Roesch
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Es stand ohne Mauer ganz für sich alleine da, mitten auf einem Vorplatz. Die Einwohner umgingen es, niemand ging mehr hindurch. Es war ein letztes Zeugnis erster Siedler. Tim Leidger dachte: Das Sein ist das Dasein.

II.
     
    Rache war Zeitverschwendung. Privatdetektiv Pawel Höchst zog die Pistole aus dem Halfter, legte sie auf die alte Zeitung, rückte den Stuhl dichter zum Schreibtisch und baute sie auseinander, um sie zu reinigen.
    Es war eine handelsübliche Malakow, Spezialkaliber neun Komma zwei mal achtzehn Millimeter, die das Jackett nicht ausbeulte. Er reinigte sie oft, doch abgefeuert hatte er sie noch nie. Vor nun schon zwei Jahren hatte er die Lizenz bekommen, vor sechs Jahren war er eingebürgert worden. Pawel war Mitte vierzig, doch nicht ein graues Haar fand sich im Braun.
    Seine Hände arbeiteten ruhig, während er ab und zu aus seinem Bürofenster sah. Sein Büro befand sich vor den Toren Rostocks in einem Gebäude, in dem sich außer ihm Vermögensberater, Versicherungsvertreter und Bilanzbuchhalter niedergelassen hatten. Pawel pflegte mit ihnen einen guten Kontakt, der Tag würde kommen, an dem er diese Fachleute brauchte.
    An der Nordseite des sechsstöckigen Hauses führte eine Fernverkehrsstraße über den Dierkower Damm direkt bis zum Überseehafen, doch Pawels Büro befand sich auf der Südseite: weiter Blick über die Warnow zur Altstadt von Rostock.
    Jetzt, Mitte März, konnte er noch durch die nackten Zweige der Bäume sehen, die am nahen Flussufer standen. Hauptsächlich Birken, geschmeidige Bäume, die ihn an seine Heimat erinnerten. Russland, Väterchen Don, die alte Dame Wolga, diese uralten Wasserstraßen, auf denen schon vor Urzeiten Siedler und Händler gefahren waren.
    Pawel litt nicht an Heimweh, er war schon damals froh gewesen, der ganzen Melancholie entkommen zu sein, als er zehn Jahre lang als Hochseefischer auf verschiedenen Trawlern gefahren war. An Bord war nie Zeit für Erinnerungen gewesen, und so hatte er vergessen, was er verlassen hatte. Die Gegenwart war so stark gewesen, immer wieder hatte sie ihn aus dem Stand gehoben. Immer wieder hatte er sich auf die Hände konzentrieren müssen, um sie zu behalten. Auf dem Oberdeck, beim Einholen der zentnerschweren Netze, im Fangdeck, beim Stemmen der fünfzig Kilogramm schweren Thunfische, in den Laderäumen, beim Zerschlagen des Eises, und immer wieder beim Abschlagen der gefrorenen Gischt, die noch im Flug am vielen Eisen des Trawlers festfror und das Schiff zum Kentern gebracht hätte, wären sie nicht in den eiskalten Sturmnächten hinausgegangen, um das Fabrikschiff von der Gefahr zu befreien. Wer wochenlang nicht zum Reden kam, der kam auch nicht einmal für eine Sekunde zum Erinnern, Pawel Höchst hatte es am eigenen Leib erfahren, ehe er an der südlichen Ostseeküste abgeheuert hatte. Er hatte seinen Mann gestanden, Mann unter Männern, und doch war es ihm mit der Zeit zu wenig gewesen, so dass er in Rostock nicht lange überlegt hatte, als die Liebe aufgetaucht war. In der Ostseestadt hatte sie ihn von der schwimmenden Heimat heruntergeholt, und sie sei der einzige Grund, warum ein Mensch seine Heimat verlassen solle, hatte Pawel gemeint. Doch wie lange war das her? Und wie wenig war davon übrig geblieben?
    Pawel Höchst polierte den Schlagbolzen, ehe er die Waffe wieder zusammensetzte. Er sah zu den letzten Haufen Schnee, die noch vor zwei Tagen hüfthoch gewesen waren. Auf dem Fluss brach das Eis, Schollen schoben sich übereinander, heute regnete es zum ersten Mal sei drei Monaten.
    Als der Anruf kam, stand Pawel gerade an der billigen Kaffeemaschine, aus der die Flüssigkeit wieder einmal neben die Kanne tropfte, anstatt in sie. Er ließ sie weiterröcheln und nahm den Telefonhörer ans Ohr: »Pawel Höchst, Private Ermittlungen, direkt im Freihafen.«
    »Ich werde verfolgt«, sagte eine Frauenstimme.
    »Wo befinden Sie sich?«, fragte Pawel, weil er glaubte, es handele sich um eine Soforthilfe, für die er das Doppelte verlangen könnte. Doch das irritierte die Frau, wie er am Unterton feststellte, als sie fragte: »Warum wollen Sie das wissen?«
    »Weil Sie verfolgt werden«, sagte Pawel. »Ich brauche den Standort. Können Sie reden?«
    »Ja, ich werde aber nicht jetzt verfolgt!«
    »Ach so, es besteht also kein akuter Handlungsbedarf«, sagte Pawel, der eine Schwäche für die Sprache deutscher Beamte hatte: »Vollzugsmeldung?«
    »Bitte? Nein! Ich …, es ist so –«
    »Nicht am Telefon!«, unterbrach
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