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French 75: Ein Rostock-Krimi

French 75: Ein Rostock-Krimi

Titel: French 75: Ein Rostock-Krimi
Autoren: Richard R. Roesch
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etwas Gutes? Wieder hatte er vielen Darbenden ein köstliches Abendmahl beschert.
    Ein dicker Herr mit fettigen Lippen drängte sich an seine Seite und fragte in passablem Deutsch: »Nun, wie gefällt Ihnen unsere Insel?«
    Tobias nickte: »Genau richtig, um Kulturhauptstadt zwanzig-zwanzig zu werden. Ich werde es der Kommission nahelegen. Keine Sorge. Sie sind der hiesige Bürgermeister?«
    Der Herr nickte, gab sich bescheiden, und Tobias sah ihm an, wie er die Summen addierte, die Bornholm erhielt, würde die Insel wirklich Kulturhauptstadt werden. Dann straffte sich der Bürgermeister und sagte: »Was ich an Ihnen aber am meisten bewundere, ich bin halt ein Praktiker, das ist Ihre Jugend! Wie alt sind Sie? Fünfundzwanzig? Sechsundzwanzig?«
    »Neunzehn, der Anzug macht mich so alt«, antwortete Tobias ernst, woraufhin der Bürgermeister in einen Lachanfall geriet, aus dem er so schnell nicht mehr herauskam. Er spuckte dabei und musste sich krümmen.
    Als er sich beruhigt hatte, sagte er: »Mein lieber Herr Gesangsverein! Wer, wenn nicht Sie, ist ein Genie!«
    »Ich bitte Sie!«
    »Im Ernst. Mir scheint, Sie machen aus Wunden Wunder. Ihr Leben ist doch ein einziges Wunder!«
    Nachdenklich blickte Tobias auf die Ostsee, ehe er leise sagte: »Aus Wunden Wunder, Sie wissen gar nicht, wie recht Sie damit haben.« Dann fügte er gefasster hinzu: »Aber das Leben eines Genies hat doch nichts mit Wundern zu tun. Diese armen Hunde sind doch alle bettelarm krepiert, nachdem sie verachtet und belächelt worden sind. Nein, so sehr sich das Wörtchen ›tot‹ im Wort ›Gott‹ versteckt, so sehr widerstrebt mir dieser Geniegedanke. Ich zahle auch Steuern.«
    »Entschuldigen Sie! Ich fürchte, wir einfachen Leute sind mit diesem Begriff einfach zu schnell bei der Hand.«
    »Verständlich, sonst müssten Sie sich ja eingestehen, nicht erfolgreich genug zu sein. Ausreden fürs eigene Mittelmaß: Genie, Held, Massenmörder.«
    »Bitte?«

ERSTER TEIL
     
    I.
     
    Die Architektur Visbys galt lange Zeit als ein Wunder. Niemand konnte sich erklären, wie man damals solch hohe Steinhäuser in so kurzer Zeit hatte bauen können. In Visby, das seit der Wikingerzeit eine wichtige Handelsstation in der Ostsee war, gab es bereits im zehnten Jahrhundert ein unterirdisches Kanalisationssystem, so dass alle Wohnungen Abtritte und Latrinenkammern hatten, die ständig durchspült wurden. Woher aber stammte dieses Wissen? Aus dem christlichen Byzanz? Einem der islamischen Kalifate, mit denen die Stadt ebenfalls Handelsbeziehungen pflegte? Wie war es nach Visby gekommen?
    Noch heute sieht diese schwedische Stadt italienisch aus, meinte er. Er blieb an der Reling der Frühfähre stehen und sah einer Mutter zu, die verbissen ihren Sohn die Gangway hinunterzog. Der Junge heulte vor Ohnmacht.
    Kurz darauf verließ auch er an diesem frühen Morgen des zwölften Septembers als letzter Fahrgast die Fähre und stellte seine Reisetasche auf das Kopfsteinpflaster des uralten Hafens.
    Er dachte: Auf Inseln tötet man nicht.
    Seine Vermieterin kam ihm müde, aber freundlich lächelnd von der Hamngatan entgegen. Er nickte ihr zu und sie führte ihn quer durch die Altstadt zum Norderklint. Sie begegneten niemandem, und als sie am Dom vorbeigingen und die Kyrktrappan hochstiegen, sagte er: »Sie haben Glück mit dieser Stadt.«
    Die Schwedin nickte, nicht bescheiden, aber wissend. Sie verabschiedete sich von ihm vor einem dreistöckigen Haus und gab ihm den Schlüssel zur Nummer zwölf.
    Als die Glocken des nahen Doms sieben Mal schlugen, schlief er erschöpft von der siebzehnstündigen Fahrt mit zwei Fähren und einem Überlandbus ein.
    Ein paar Stunden später ging er, nach einem ordentlichen Frühstück, auf Erkundungstour. Die Häuser der Norra Murgatan waren kaum größer als die Haustüren, durch die man nur kam, wenn man sich bückte. Am südlichen Ende der Gasse fand er die Stille wie auf einem Friedhof. Er lächelte im Schatten der allgegenwärtigen Schutzmauer aus dem dreizehnten Jahrhundert. Sie war vollständig erhalten, sah man einmal von der Bresche ab, die die Lübecker fünfzehnhundertfünfundzwanzig in die Mauer geschlagen hatten, um der konkurrierenden Stadt den Todesstoß zu versetzen. Ein Drittel der Bevölkerung hatten die Lübecker damals abgeschlachtet und in Massengräbern verscharrt, um dann das Oberhaupt der Hanse zu werden, die in Visby entstanden war. So ergeht es eben Müttern, wenn die Söhne erwachsen geworden sind und es keine
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