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Fremdkörper

Fremdkörper

Titel: Fremdkörper
Autoren: Miriam Pielhau
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diesen Aufprall war ich nicht vorbereitet. Leider gibt es für so etwas keinen Airbag. Fuck it. Was mache ich jetzt? Ich ... erst einmal gar nichts. Thom nimmt mich in den Arm. Und bringt so meine Seele nach dem Crash in die stabile Seitenlage.
    Er hat das Telefonat übernommen. Im Hintergrund murmelt er Fragen, seufzt hin und wieder ein »Hm ...« und vereinbart Termine. In mir steigen Bilder auf, die ich weder mag noch in irgendeiner Form verhindern kann.
    Ich sehe mich in einem offenen Sarg. Stopp. Ich will das nicht. Bleich, grau und ohne Haare. Weg mit dem Bild. Weg. Ich sehe meine zierliche, geliebte Mutter, die weinend zusammenbricht. Meinen bärigen Vater, der hilflos schreit. Nicht weinen. Es wird alles gut. Meine Geschwister mit roten, verquollenen Augen. Ich sehe Thom, wie er weint und mich schüttelt, als würde mich das wieder lebendig machen ... Nicht, Liebster. Ich bin doch hier. Von mir gibt es aber nicht nur dieses leblose Ich, sondern auch einen Schatten. Unbemerkt von meiner Familie steht mein Schatten-Ich in einer Ecke und führt ein Zwiegespräch mit Gott: »Warum? Was hab ich so sehr falsch gemacht? Ich habe mich doch immer bemüht, so zu leben, wie du es gut findest. Warum darf ich nicht auch alt werden und Kinder und Enkelkinder haben? Warum?« Meine Kehle verengt sich unangenehm. Eine unsichtbare, aber monströse, kräftige Macht würgt mich. Und auch wenn ich sie nicht sehen kann, so kenne ich diese Gewalt schon. Ich hatte bereits einmal das zweifelhafte Vergnügen, ihr zu begegnen. Damals sind wir vor der Tsunami-Welle in Thailand geflohen. Meine Widersacherin hat einen einfachen, sehr hässlichen Namen: Todesangst.
    Minuten des schweigenden Schocks. Schrecklich laute Stille. Kaum hörbares Atmen. Langsam kriechen meine Muskeln aus ihrer Starre hervor und versuchen sich in Zeitlupenbewegungen. Endlich, endlich, endlich lösen sich Tränen aus den Augen und es plumpsen fiepsige Töne aus mir heraus. Erbärmlich klingt das. Die Rinnsale aus Salz werden schnell viele und strömen über die Wangen. Zunächst ein leises Schluchzen, erfährt das Weinen langsam die Wucht der Verzweiflung. Es fließt aus mir heraus. Als hätte sich alles im Körper verfügbare Wasser hinter den Augen versammelt und nur darauf gewartet, dass der Schleusenwärter das Tor aufmacht. »Ich will nicht sterben, Thom! Noch nicht. Wir hatten doch noch so viel vor. Ich will nicht schon bald tot sein.« Zum ersten Mal, seit wir uns kennen, ist auch er sprach- und trostlos. Das Einzige, was ich spüre, sind warme Tropfen an meinem Hals. Und das unkontrollierte Zittern, das diesen sonst so stabilen Kerl durchfährt. Und so sitzen wir auf unserem Bett. Zwei wässrige Wesen, ein Doppelhäufchen Elend. An unserem Hochzeitstag.

2. 
Der K-Klub
    »Ich habe ... K... – ich habe das also.« Nach einer kleinen Weile bringe ich diesen Satz über die vom Heulen trockenen und aufgeplatzten Lippen. Mann-o-meter. Was ist da gerade passiert? Das war ein Erdbeben. Meine heile Welt wurde erschüttert. Mein ausgefeilter Lebensplan auch. So wie mein Glauben daran, dass alles einen Sinn hat. Denn diese Diagnose halte ich für reichlich sinnlos. Nicht nur bei mir. Bei allen. Die ganze Scheiß-K-Krankheit ist es. Mein Kopf wusste genau das selbstverständlich schon immer. Mein Herz fühlt es gerade jetzt zum ersten Mal. So sehr, dass es wehtut. Überhaupt tut nichts nicht weh in diesem Augenblick. Alles ist schmerzhaft. Jeder Gedanke, jede Faser, jede Bewegung. So fühlt sich wohl porentiefe Hilflosigkeit an. In aller Schwäche bleibt noch ein kleines Plätzchen für bittere Ironie und ich heiße mich selbst willkommen. Na, dann. Tusch. Fanfare. Wir begrüßen unser neues Mitglied im K-Klub.
    »War es das jetzt?«, frage ich mich abends. Habe ich wirklich schon kapiert und akzeptiert, dass nun mal ist, was ist – nämlich augenblicklich nichts wirklich gut? Mein Kopf bockt noch ordentlich und sieht nicht ein, dass offenkundig wenige Stunden reichen, um so einen Schock zu verkraften. Also bewege ich mich in Hab-acht-Stellung in meinen eigenen Gefühlen vorwärts, auf der Hut vor dem nächsten Tiefschlag.
    Hinter uns liegt ein Nachmittag in der Radiologie. Wir sind natürlich noch hingefahren nach der telefonischen Desaster-Diagnose. So, als würde das das Ergebnis verbessern. Im Institut wurde ich quasi klinisch geprüft. Wie jede anständige Hautcreme. Befund- und Lagebesprechung. Dr. Gonzalez wiederholt das Unaussprechliche und bereitet mich
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