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Wer sich nicht wehrt...

Wer sich nicht wehrt...

Titel: Wer sich nicht wehrt...
Autoren: Heinz G. Konsalik
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    Ein schöner, sonnenheller Winternachmittag war es.
    Der Schnee glitzerte unter dem wolkenlosen Himmel bläulichweiß, und wenn man aus dem Haus getreten war und sich an die Kälte gewöhnt hatte, war man fast versucht, sich in die Sonne zu legen. Es war einer jener Wintertage, an denen es einem Großstadtbewohner vorkommt, als sei er zum Schneeurlaub aufs Land gefahren.
    Horst Tenndorf stand vor dem Reißbrett und zeichnete gerade mit dem Winkellineal die Dachkonstruktion einer Doppelhaushälfte, als Wiga, seine Tochter, in das Architektenbüro kam. Sie war acht Jahre alt, blondgelockt, mit großen, wasserhellen blauen Augen und einer Selbständigkeit, wie sie alle Kinder mehr oder weniger entwickeln, die ohne Mutter aufwachsen müssen.
    Nur noch schwach konnte sich Ludwiga, wie sie mit vollem Namen hieß, an den Tag erinnern, an dem ihr Vater sie auf seinen Schoß gesetzt und sie mit stummem Staunen erlebt hatte, daß etwas Unbegreifliches geschah: Ihr Vater weinte. Dicke Tränen rollten über seine Wangen, und als er sprach, klang seine Stimme ganz anders als vorher, zittrig und irgendwie fremd.
    »Mami ist weggegangen«, hatte Tenndorf gesagt. »Sie … sie kommt nicht wieder … Sie ist mit dem Auto … es war glatt auf der Straße … frontal gegen einen Baum … o Wiga, mein Kleines …« Und dann hatte er sie an sich gedrückt und laut geschluchzt.
    Was frontal war, verstand Wiga damals nicht. Sie begriff nur, daß Mami weggegangen war und nie wiederkommen würde und daß Papi nun allein auf der Welt für sie da war.
    Nach dem Begräbnis hatte Tenndorf seiner Tochter eine wunderschöne Katze geschenkt, rotweiß gestreift, mit schillernd grünen Augen. Wiga nannte sie ›Micky‹, weil das junge Kätzchen gleich am ersten Tag mit den noch kleinen Krallen eine Seite in ihrem Mickymaus-Bilderbuch zerfetzte. Das war nun drei Jahre her, Micky hatte sich zu einer stolzen, gut genährten Katzendame entwickelt. Sie trug ein rotes Lederhalsband, ging wie ein Hund an der Leine, schlief in einem Spankorb in Wigas Zimmer, sprang gegen Morgen regelmäßig zu Wiga ins Bett, rollte sich zusammen und schlief schnurrend weiter.
    Die Erinnerung an Mami war im Laufe der Jahre verblaßt. In Wigas Leben spielten nun drei Lebewesen die Hauptrollen: ihr Vater, Micky und Michael. Michael, das war der Junge von gegenüber, Hubertusstraße 15, ihr Spielgefährte, ein Jahr älter als sie, in der selben Schule wie sie, und auch nur mit einem Elternteil. Bei Mike, wie ihn alle riefen, war der Vater eines Tages nicht wiedergekommen, aber merkwürdigerweise hatte es kein Begräbnis und keine Versammlung weinender Leute gegeben.
    »Mein Papa ist in Australien«, hatte Mike ihr erklärt.
    »Was ist Australien?« hatte Wiga gefragt.
    »Irgendein Land weit weg. Ganz weit weg. Ich zeig' dir's mal auf der Karte.«
    »Und was macht dein Papa da?«
    »Er stellt Kunststoffe her. Mein Papa ist Chemiker.«
    »Und er kommt nicht wieder aus … aus Australien?«
    »Nein!« Mike hatte mit dem Kopf geschüttelt und fast stolz erklärt: »Meine Mama sagt, sie sind geschieden.«
    »Was heißt geschieden, Mike?«
    »Papa ist eben nicht mehr bei uns, ist weg mit einer anderen Frau, eben nach Australien. Ehe er wegging, hat er zu mir gesagt: ›Mike, du bist nun der Mann im Haus. Paß gut auf Mama auf!‹ Und dann hat er mir Pumpi geschenkt.«
    Pumpi. Das war viel interessanter als Australien, Scheidung und Mikes Mutter, die einen Raum der Wohnung in ein Atelier umwandelte und zu malen begann. Pumpi, das war ein mittelgroßer, merkwürdiger Hund, in dem sich einige grundverschiedene Rassen vereinigt hatten und der jedem auffiel, weil sein Fell aus ineinanderlaufenden schwarz-weiß-roten Flecken bestand. Wenn ein Hund als Musterbeispiel einer Promenadenmischung bezeichnet werden konnte, dann war es Pumpi.
    Für Wiga war damals eines sehr wichtig: Würden Pumpi und Micky sich vertragen? Es war, wider Erwarten, eine Freundschaft auf den ersten Blick. Zwar stellte Micky bei der ersten Begegnung ihren Schwanz kerzengerade hoch und versteifte die Muskeln. Aber als Pumpi begann, sie über die Stirn zu lecken, fiel ihr Buckel zusammen, sie legte sich hin und nahm Pumpis Zärtlichkeit schnurrend an. Und so, wie bei Wiga die Erinnerung an ihre Mutter immer mehr verblaßte, so entschwand auch das Bild von Mikes Vater. Micky und Pumpi nahmen die leergewordenen Plätze in den Herzen der Kinder ein.
    »Was ist?« fragte Tenndorf und schob das Winkellineal zur Seite.
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