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Fremdkörper

Fremdkörper

Titel: Fremdkörper
Autoren: Miriam Pielhau
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sein. Und das hält die Laune auf Gefrierpunkt-Temperatur. Und dennoch: Angst ist nicht alles. Wir machen uns auch Mut. Gegenseitig. Und jeder sich selbst. Reden uns Zuversicht und Hoffnung so lange ein, bis wir daran glauben. Was tatsächlich funktioniert. Genauso wie gemeinsam beten. Gott bekommt eine sehr, sehr lange Liste an Wünschen und Bitten. Dieses Mal nicht nur von uns, sondern auch für uns. Da hat er einiges abzuarbeiten, der Gute. Als wir spät in der Nacht beschließen, schlafen zu gehen, habe ich das angenehme Gefühl, dass das »Wir schaffen das!« überwiegt.
    Mitten in der Nacht, im Bett liegend, im Dunkeln, von unheimlicher Stille umhüllt, überwältigen mich noch einmal die Gedanken und Eindrücke der vergangenen Stunden. Wen wundert es. Ich versuche, nicht zu sehr zu zucken und zu vibrieren, als ich zum letzten Mal an diesem Tag ziemlich heftig weinen muss. Wenigstens einer von uns soll etwas Schlaf bekommen. Ein rührseliger, wenngleich idiotischer Gedanke. Dass Thom zu seiner Bettseite gerollt gerade dasselbe Täuschungsmanöver versucht, wird er mir erst später erzählen. Während die Tränen ins Kopfkissen tropfen, führe ich, wie ziemlich oft in der Einsamkeit der Dunkelheit, ein lautloses Gespräch mit meinem alten Herrn. Und das dreht sich ausschließlich um die eine, immer wiederkehrende Frage: »Warum? Warum jetzt? Warum ich?« In andere Worte oder fantasiereichere Phrasen lässt sich die ratlose Leere dieser Stunden nicht packen. Ich weiß nicht, ob es eine Halbschlaf-Illusion oder doch schon ein handfester Traum ist, in dem mein Gott sich zu mir auf die Bettkante setzt und mir lächelnd die Gegenfrage stellt: »Warum ich – fragst du. Wer denn dann, wenn nicht du?« Die Antwort bleibe ich ihm selbstredend schuldig. Selbst den Menschen, die ich am allerwenigsten mag, würde ich dieses K-Ding nicht wünschen. Natürlich nicht. Niemand würde das. Also wird mir allmählich etwas sehr Simples und gleichermaßen leider ziemlich Schweres klar: keine Frage mehr nach dem Warum. Warum? Darum.
    Irgendwann in den frühen Morgenstunden bin ich dann mit vermutlich dicken Augen, ziemlich schwerem Herzen und großer emotionaler Erschöpfung eingeschlafen. Traurig sein. Hoffnung haben. Angst kriegen. Mut verlieren. Mut fassen. Das war alles ganz schön anstrengend. Trotzdem bin ich schon wenige Stunden später wieder wach und schlurfe, wie eigentlich immer, etwas träge ins Bad. Es ist erwartungsgemäß ein Spiegelbild des Grauens, das sich mir da bietet. Ziemlich blass, ziemlich verquollen und ziemlich dünnhäutig blicke ich einer mir in diesem Moment fremden Frau entgegen. Ich versuche eine Veränderung in meinem Gesicht festzustellen. So als müsste die Diagnose neben der akuten optischen Derangiertheit noch andere sichtbare Spuren hinterlassen haben. Irgendein Zeichen, ein Makel, ein Stempel. Ein kleines Wiedererkennungsmerkmal aller K-Klub-Mitglieder. Finden kann ich dergleichen natürlich nicht. Eine ganze Weile gestatte ich mir diese stumme »Zweisamkeit« und erforsche mein Gegenüber. Ich hüstle ein bisschen vor mich hin. Räuspere mich und rüttle damit die Stimmbänder wach. Der Mund öffnet sich einen kleinen Spalt. Und er sagt etwas, wenn auch sehr leise: »Ich habe Krebs.« Kein Erdspalt, der sich öffnet. Und auch sonst keine der Angelegenheit angemessene, spektakuläre Reaktion. Noch nicht mal ein kleiner Donnerschlag. Der Satz wird wiederholt. Mit lauterer und festerer Stimme: »Ich habe Krebs.« Pause. Und wieder: »Ich – habe – Krebs. Krebs. Krebs. Kreeebs!« Zwar bemerke ich das Wasser, das sofort in meine Augen schießt, meine Spannung rund um die Mundwinkel und den allzu bekannten unsichtbaren Würgegriff, doch ich reiße mich am Riemen. Nur weil der Krebs zurzeit in mir ein Zuhause hat, heißt das noch lange nicht, dass er die Hausordnung verändern kann. Und gemäß der Pielhau-Paragrafen bin ich in der Regel ganz schön stark, ziemlich zäh und sehr ausdauernd. Denn, Herr Krebs, ich lasse Sie nicht zu. Damit das klar ist. Ich habe nämlich noch sehr viel vor. Es gibt einige Länder, in die ich noch keinen Fuß gesetzt habe, die auf mich warten. Ein Haus hätte ich gerne. Und Kinder. Es gibt Menschen, die mich brauchen. Kurzum: ein Leben, das von mir gelebt werden will. Und das werden Sie ganz bestimmt nicht ändern. Sie sind allenfalls eine Hürde, eine Herausforderung. Aber doch nicht meine letzte. Kapiert? Ja. Sie mögen mich gestern vielleicht kurz in Ihrer Gewalt
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