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Frau Paula Trousseau

Frau Paula Trousseau

Titel: Frau Paula Trousseau
Autoren: Christoph Hein
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trockenen geschrumpften Blätter flogen in die Luft und verteilten sich wieder auf dem kurzgeschnittenen Gras. An den beiden Stahlstangen für die Wäscheleine und rings um die wenigen Beerensträucher sammelten sie sich erneut zu kleinen vibrierenden Hügeln, bereit, bei einem nächsten Windhauch aufzustieben und über die Wiese zu tanzen.
    »Wir reden mit dir, Paula. Würdest du bitte aufhören, aus dem Fenster zu starren. Schließlich geht es um deine Zukunft.«
    Ich schrak zusammen. Vaters Stimme hatte diesen klirrenden, bedrohlichen Klang, der mich zu Eis erstarren ließ, jenen Ton, der als Schatten über meiner ganzen Kindheit lag und der mich noch immer verfolgt, den ich urplötzlich und völlig unerwartet im Ohr habe, der mich heimsucht, wenn ich mit Freundinnen unterwegs bin und irgendein Wort oder eine Geste mich an Vateroder meine Kindheit erinnerten, wenn ich ganz gelöst und glücklich allein in meinem Zimmer sitze und die Stunden verträume, jenen Ton, der mich schlagartig heimsucht und beherrscht, der mich erneut in Panik versetzt, auch nachdem ich längst von zu Hause ausgezogen war. Wenn Vater mit dieser Stimme sprach, erfror alles in mir, und steif vor Entsetzen erwartete ich die darauf folgende Eröffnung, die sich ankündigende Drohung, einen Satz, der mit bösartiger Ironie mir und meiner Schwester mitteilte, dass wir beschränkt und faul seien. Ich hatte meine ganze Kindheit hindurch immer wieder den Satz hören müssen, dass ich und meine Schwester die Kinder einer infantilen Idiotin seien, dass wir zu nichts taugten und dass er, der Vater, nicht wisse, wodurch er es verdient habe, mit solchen Töchtern gestraft zu sein.
    Ich war für einen Nachmittag in meine Heimatstadt gefahren, um meinen Eltern zu sagen, ich müsse meine Hochzeit verschieben. Ich hatte gehofft, sie würden mich verstehen und mich bei den sich dadurch ergebenden Misslichkeiten unterstützen. Vor allem hatte ich erwartet, sie würden den eingeladenen Verwandten mitteilen, dass der Termin um einige Tage verlegt werden müsse. Mutter war entsetzt, als ich ihr klarzumachen suchte, weshalb die Hochzeit um eine Woche verschoben werden müsse, und Vater hätte mich fast geohrfeigt. Seine Hand zuckte, und obwohl ich ihn weiterhin spöttisch anblickte, hatte ich instinktiv den Kopf ein wenig eingezogen. Es war wie damals, ich war augenblicklich wieder das kleine blasse Mädchen, das sich vor allem und jedem fürchtet, vor allem vor dem Hohn und Spott des Vaters, das der großen Schwester hinterherlief, weil es sich von ihr den Beistand erhoffte, den die Mutter nicht geben konnte. Ich zog wie ein Spatz den Kopf ein, angstvoll das angekündigte Gewitter erwartend. Und wie damals verstummte ich aufder Stelle. Ich suchte nach den Worten für die verlangte Antwort, doch der Hals war mir wie in der Kindheit zugeschnürt und nur ein leises Keuchen kam aus der Kehle. Ich schaute auf meine Schuhspitzen und wagte nicht, den Kopf zu heben. Ich wusste, was ich sehen würde: den wütenden, verächtlichen Blick von Vater, der seinen ganzen Ekel über die tölpelhafte Unbeholfenheit und Begriffsstutzigkeit seiner Frau und seiner Töchter enthielt.
    »Nun? Was ist? Würdest du dich bitte äußern?«, fragte Vater, dessen mühsam beherrschte Stimme vor Erregung leicht zitterte.
    »Mach dich nicht unglücklich, Kind«, jammerte Mutter, »mit dem Hans hast du in den Glückstopf gegriffen, Mädchen. Zerstöre nicht alles.«
    »Künstlerin! Die Dame will plötzlich Künstlerin werden! Wie kommst du denn darauf, die Welt warte ausgerechnet auf dich? Eine richtige Arbeit ist wohl zu anstrengend für dich, wie? Diese Göre bildet sich ein, was Besseres zu sein. Deine Lehre wird nicht abgebrochen, damit das klar ist. Du lernst zu Ende, damit du dich, blöd wie du bist, ernähren kannst. Krankenschwester ist für dich genau das Richtige. Nachttöpfe wegräumen und eine Spritze geben, das wirst du noch können. Das wird deinen geistigen Horizont nicht überfordern, das hoffe ich jedenfalls. Künstlerin! Wieso bildest du dir ein, du könntest malen? Und wovon willst du leben? Glaube nur nicht, dass du deinem Vater ewig auf der Tasche liegen kannst. Du machst die Lehre zu Ende, hast du das verstanden?«
    Ich hielt noch immer den Kopf gesenkt. Vater fasste mir unters Kinn und riss meinen Kopf hoch, so dass ich ihm in die Augen blicken musste.
    »Also?«
    Ich hatte Tränen in den Augen und sah ihn hasserfülltan. Dann nahm ich alle Kraft zusammen, zog den Kopf aus
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