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Frau Paula Trousseau

Frau Paula Trousseau

Titel: Frau Paula Trousseau
Autoren: Christoph Hein
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Kalender, dann sagte er: »Es war Montag, der 22. Mai.«
    »Woher wollen Sie das wissen?«
    »Vergessen Sie nicht, ich war ihr Schutzengel. Ein Schutzengel, der gründlich versagt hat. Ich weiß, es war der 22. Mai. Glauben Sie mir.«
    Sebastian Gliese begleitete seinen jungen Gast die Treppe hinunter bis zur Haustür und verabschiedete sich herzlich von ihm. Für einen Moment legte er ihm eine Handauf die Schulter. Der junge Mann ließ es zu, noch immer sah er ihn ernsthaft und durchdringend an.
    »Wenn Sie mir eine Kopie von Paulas Brief machen würden, wäre ich sehr dankbar, Michael.«
    »Das werde ich tun. Schließlich haben auch Gendarmerie und Staatsanwaltschaft Kopien.«
    Er lief die Straße hinunter, ohne sich umzuwenden. Als Gliese die Treppe hochstieg, fiel ihm ein, dass er weder die Adresse noch eine Telefonnummer von Michael besaß, doch dann sagte er sich, der Junge werde sich schon melden, schließlich wolle er etwas von ihm. Der Gedanke, Paulas Bilder in seiner Wohnung zu lagern, war ihm unangenehm. Es waren, soweit er sich an sie erinnern konnte, tatsächlich düstere und niederdrückende Blätter. Ihren künstlerischen Wert konnte er nicht beurteilen, für ihn lag ihre Bedeutung allein in dem Umstand, dass es die Bilder von Paula waren, dieser schönen Frau, die er seit mehr als zwanzig Jahren kannte oder vielmehr verehrte, deren Nähe er suchte und fürchtete, die ihn verwirrt hatte, so dass er selbst jetzt, nach ihrem Tod, nur schwer seine Beziehung zu ihr benennen konnte.
    Drei Wochen später fuhr er an einem Samstag zusammen mit Paulas Sohn zu ihrem Haus in Kietz. Er sah es zum ersten Mal und konnte sich, während er neben Michael durch die Räume lief, einer leichten Befangenheit nicht erwehren. Es war Paulas Haus, das er betreten hatte, es waren die Sachen einer toten Frau, die er sich anschaute, und er hatte das Gefühl, eine Taktlosigkeit zu begehen, ein Vertrauen zu missbrauchen. Während des gesamten Besuches fürchtete er, plötzlich unvermutet Paula gegenüberzustehen und ihr erklären zu müssen, wieso er in das Haus eingedrungen sei.
    Im großen, sich über das gesamte Stockwerk hinziehenden oberen Wohnraum standen Kartons, Mappenund Papprollen. Michael wies ihn auf die zugebundenen Mappen hin, auf denen Glieses Name stand. Er öffnete sie und schaute sich die darin liegenden Blätter an. Anfangs sah er sich jede der Arbeiten an und nahm einige heraus, um sie genauer zu betrachten, später blätterte er nur noch in den Mappen und verschnürte sie wieder.
    Michael machte Kaffee in der Küche.
    »Wie haben Sie sich entschieden?«, fragte er. »Werden Sie Mutters Wunsch erfüllen?«
    »Ich bin dafür nicht geeignet, Michael. Ich kann damit nichts anfangen. Suchen Sie einen Galeristen, einen Kunsthändler. Vielleicht sind die Blätter wertvoll, und Ihre Mutter wird noch berühmt.«
    Der junge Mann sah ihn reglos an.
    »Aber ich würde mir gern zwei, drei Blätter mitnehmen. Für mich. Wäre das möglich?«
    »Nehmen Sie sich, was Sie wollen. Und so viel Sie wollen.«
    »Es tut mir leid, dass ich Ihnen nicht helfen kann. Ein Nachlass bedeutet immer Arbeit. Ich hoffe, Sie haben mit den anderen Adressaten keine Probleme.«
    »Nein, nur mit Cordula. Sie will ihr Päckchen auch nicht annehmen.«
    »Cordula? Wer ist das?«
    »Meine Schwester. Meine ältere Schwester. Mutter hatte ihr ein dickes Manuskript hinterlassen, aber sie hat es mir umgehend und ungeöffnet zurückgeschickt.«
    »Ein Manuskript? Haben Sie es gelesen?«
    »Ich habe einmal reingeschaut, aber nicht gelesen. Ich weiß nicht, ob es Mutter recht wäre. Es war wohl allein für Cordula geschrieben.«
    Gliese schaute sich im Raum um. Da alle Zwischenwände herausgenommen waren, machte er auf ihn den Eindruck eines wohnlich hergerichteten Speichers, einesLofts. Er versuchte, sich Paula in diesem Haus vorzustellen, und gab es auf, als das Gesicht einer Toten sich über ihr Bild schob.
    Auf der Rückfahrt sprach er mit Michael über dessen Studium und seine beruflichen Absichten. Er vermied es, über Paula zu sprechen, und auch Michael verlor kein Wort über seine Mutter und über ihre Bilder.
2.
    Der Wind hatte das Laub vor dem Drahtzaun zusammengefegt, der das Grundstück vom Nachbarn abtrennte, so dass die welken Blätter einen halbmeterhohen Wall bildeten, eine breite, rotbraungelbe Welle, in die man sich hineinwerfen konnte. Während ich unentwegt aus dem Fenster in den kleinen Garten starrte, drehte sich plötzlich der Wind, die
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