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Frau Paula Trousseau

Frau Paula Trousseau

Titel: Frau Paula Trousseau
Autoren: Christoph Hein
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Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen sei, sondern Selbstmord verübt habe. Sie war in dem Wasser nicht ertrunken, vielmehr habe sie sich mit einem Mix unterschiedlichster Tabletten vergiftet. Die Tabletten habe sie, das hätten Untersuchungen ergeben, an dem Gewässer eingenommen. Als sie von einem brüchigen Angelsteg ins Wasser fiel, war sie bereits tot. Es befand sich kein Wasser in ihrer Lunge. Fremdeinwirkung konnte ausgeschlossen werden. Die Polizei habe sich lange bemüht, Angehörige der Toten zu ermitteln, aber in ihren persönlichen Sachenim Zimmer einer Pension unweit von Vendôme fanden sich nur wenige Namen und Adressen, die ihnen nicht weiterhelfen konnten. Nach drei Monaten habe man die Suche ergebnislos abbrechen müssen. Paula Trousseau sei gerichtsmedizinisch untersucht worden und nach der Freigabe auf Kosten der Gemeindekasse kremiert worden, um eine mögliche spätere Überführung zu erleichtern. Falls er, der Sohn, die Urne überführen lassen wolle, bitte man ihn, die Gendarmerie frühzeitig darüber zu unterrichten, da Papiere und notarielle Beglaubigungen erforderlich seien. Auf jeden Fall sei es unumgänglich, nach Vendôme zu kommen, um die in der Pension sichergestellte Habe seiner Mutter abzuholen. Er sei daraufhin drei Tage später mit der Kommilitonin nach Frankreich gefahren, zur Gendarmerie gegangen, danach zum städtischen Friedhof und schließlich zu der angegebenen Adresse der Effektenkammer, um den Koffer, die Skizzenblöcke und den blechernen Malkasten in Empfang zu nehmen. Die Gendarmerie hatte ihm einen Brief der Mutter übergeben, der an ihn gerichtet war. Die Polizei hatte ihn geöffnet.
    Michael Trousseau holte den Brief aus der Jackentasche und reichte ihn Sebastian Gliese. Der sah den jungen Mann an, dieser nickte und sagte: »Lesen Sie. Er ist auch für Sie bestimmt, denke ich.«
    Gliese nahm langsam und vorsichtig den Brief aus dem Umschlag, als handelte es sich um eine Kostbarkeit, eine Reliquie. Es waren drei handbeschriebene Seiten, auf denen sie ihren Sohn um Verzeihung bat und sich verabschiedete.
    Auf der zweiten Seite las er: »Ich wünschte, ich wäre nur irgendein Mädchen gewesen, nicht hübsch, nicht begabt und vor allem ohne Träume. Es wäre mir leichter geworden, den Nachstellungen und Verleumdungen zu entgehen. Es hätte mir vielleicht die Kraft gegeben, michzu wehren. Verzeih mir, Michael, verzeih mir, du mein Einziger, aber ich habe mein Leben einige Jahre länger getragen, als ich es ertragen konnte. Das solltest du mir zugutehalten, mein Junge. Verzeih, dass ich mein Versprechen sehr bald brechen werde. Aber ich bin am Ende, und ich kann nicht mit dir darüber sprechen. Ich liebe dich zu sehr, um mir diesen Schmerz anzutun.«
    Auf der letzten Seite gab es unter dem Namen einen Nachsatz, in dem Paula Trousseau verfügte, dass sie ihren gesamten Besitz dem Sohn Michael vermache. All ihre Bilder, Zeichnungen und Skizzenblöcke sollten jedoch Sebastian Gliese übergeben werden, damit dieser ihr Werk treuhänderisch verwalte. Mögliche finanzielle Erträge sollten, nach Abzug aller entstandenen Unkosten, gleichfalls ihrem Sohn zugutekommen. Sebastian Gliese sei der einzige Mann und Mensch, der ihr auf dieser Erde hätte helfen können. Er sei zu ihrem Schutzengel bestimmt gewesen, aber sie habe es zu spät erkannt.
    Verwirrt ließ Gliese die Hand mit dem Brief sinken und sah den jungen Gast an. Vorsichtig faltete er den Brief wieder, schob ihn in den Umschlag und gab ihn zurück.
    »Wären Sie bereit, den Wunsch meiner Mutter zu erfüllen?«
    »Ich wusste es nicht«, erwiderte Gliese, »ich wusste nicht, dass ich Ihrer Mutter so viel bedeutete. Wir waren befreundet, ich liebte Paula, aber ihr Schutzengel war ich nicht. Leider.«
    »Werden Sie ihren Wunsch erfüllen?«
    »Ich fürchte, ich kann es nicht«, antwortete er, »ich bin kein Maler, ich kenne mich nicht aus, ich wüsste nicht, wie ich ihre Arbeiten präsentieren kann. Ich habe keinerlei Verbindungen zu Galeristen. Verstehen Sie bitte, Michael, wenn die Bilder bei mir landen, sie würden sich hier stapeln, ohne dass ich die geringste Möglichkeit hätte, sieauszustellen oder Käufern anzubieten. Ich weiß nicht einmal, wie man Gemälde und Skizzen fachgerecht lagert. Ich bin kein Maler. Wäre es nicht besser, wenn Sie das Erbe Ihrer Mutter übernehmen?«
    »Es ist aber ihr Wunsch …«
    »Ja. Und es fällt mir schwer, ihn zurückzuweisen. Nein, das kann und will ich nicht. Sie sollten sich
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