Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Frau Paula Trousseau

Frau Paula Trousseau

Titel: Frau Paula Trousseau
Autoren: Christoph Hein
Vom Netzwerk:
überlegen, im Interesse Ihrer Mutter und ihrer Hinterlassenschaft, ob es nicht besser wäre, wenn Sie die Arbeiten behalten. Ich respektiere Paulas Wunsch, aber bedenken Sie, Ihre Mutter war zum Schluss verzweifelt und hat sich sicherlich nicht alles genau überlegt.«
    Michael Trousseau schüttelte den Kopf.
    »Nein«, sagte er, »ihren Tod hatte sie sorgsam vorbereitet und geplant. Sie war Anfang Mai nach Vendôme gefahren und hatte zuvor ihr Haus in Kietz komplett aufgeräumt und ausgemistet. Als ich vor drei Wochen, also fünf Monate später, das Haus zum ersten Mal nach ihrem Tod betrat, war alles sortiert und verpackt wie vor einem Umzug. An jedem Karton, an jeder Rolle klebten Zettel mit den Namen derer, für die sie bestimmt waren. Wenn Sie nach Kietz mitkommen, werden Sie sehen, Mutter hat genau festgelegt, was Sie erhalten sollen.«
    »Ich hätte es Paula ausgeredet. Wenn sie auch nur eine Andeutung gemacht hätte, hätte ich ihr gesagt, dass ich der Falsche bin. Was ist mit Ihrem Vater, Michael? Wäre er nicht der Richtige?«
    »Ich habe meinen Vater nie kennengelernt. Ich weiß nichts von ihm, ich besitze von ihm kein Foto, ich kenne nicht einmal seinen Namen. Mutter sagte mir, er sei vor meiner Geburt gestorben. Sie wollte nie über ihn reden. Ich habe nie erfahren, wieso. Jedes Gespräch über ihn war ihr unangenehm, und sie brach es ab. Sie kennen sie ja, Sie wissen, wie starrköpfig sie war. Ob mein Vater wirklichvor meiner Geburt starb, ich bezweifle es, denn dann hätte sie doch, was immer auch zwischen den beiden vorgefallen war, über ihn reden können. Aber er hat sich auch nie bei mir gemeldet. Meinen Vater gibt es nicht.«
    »Tut mir leid.«
    »Bitte, überlegen Sie es sich, Herr Gliese.«
    »Das verspreche ich Ihnen, Michael, aber ich bitte auch Sie, meine Bedenken ernst zu nehmen. Ich will gern helfen. Ich will alles tun, was in meinen Kräften steht, aber die Bilder würden bei mir verrotten, kein Mensch würde sie zu sehen bekommen. Ich weiß nicht einmal, was man anstellen muss, um die kleine, lächerliche Galerie des Stadtbezirks für eine Ausstellung zu gewinnen. Ich bin der falsche Mann. Lassen Sie uns einen geeigneteren Weg finden, Michael. Einverstanden?«
    Michael Trousseau hatte zugehört, ohne ihn auch nur für einen Moment aus den Augen zu lassen. Gliese hatte den Eindruck, er werde von ihm auf Herz und Nieren geprüft, vielleicht wollte er erkunden, welches Verhältnis er zu seiner Mutter gehabt hatte. Der junge Mann gefiel ihm. Er versuchte, Paulas Züge in seinem Gesicht zu entdecken, sah aber nichts, was ihn an sie erinnerte. Die Augenbrauen vielleicht, sagte er sich, und vielleicht das schmale Gesicht. Er hatte gehofft, er würde ihre Augen bei ihm sehen, diese unendlich traurigen Augen, die ihm bei ihrer allerersten Begegnung sofort aufgefallen waren. Ihrer Augen wegen hatte er sie damals, vor mehr als zwanzig Jahren, angesprochen, und nur um ihre Augen zu sehen, verabredete er sich mit ihr, saß stundenlang in irgendeinem Café ihr gegenüber, hörte ihr zu und schaute unentwegt in ihre Augen. Er hatte nie wieder so viel freundliche Trauer gesehen, und hatte vom ersten Moment an gewusst, dass diese Frau gierig auf das Leben war und doch unfähig sein würde, ihr Leben zu bestehen.
    »Paulas Augen«, sagte er unvermittelt.
    Der junge Mann sah ihn erwartungsvoll an, und Sebastian Gliese fügte hinzu: »Sie hatte so wundervolle Augen, Ihre Mutter.«
    »Ja«, bestätigte er, »Mutter hatte die schönsten Augen der Welt.«
    »Die traurigsten Augen«, korrigierte Gliese.
    Michael Trousseau nickte.
    »Ich wusste, dass Mutter mich vor der Zeit verlassen wird. Ich wusste es seit meiner Oberschulzeit. Einmal konnte ich sie retten, da war ich siebzehn. Sie hatte mir versprochen, dass sie es nie wieder tun würde.«
    Er sah seinen Gastgeber an, und jetzt konnte Sebastian Gliese Paulas Augen bei ihm sehen. Er lächelte.
    Der junge Mann erhob sich, steckte den Brief in die Jackentasche. Er werde in einer Woche anrufen, sagte er, sie könnten sich dann verabreden und zusammen nach Kietz in Paulas Haus fahren, um die Bilder durchzusehen. Und er hoffe, Herr Gliese sei dann bereit, Mutters Vermächtnis anzunehmen.
    Gliese nickte. Dann sagte er: »Eine Frage noch, Michael: wann ist Ihre Mutter gestorben? An welchem Tag?«
    »Die Polizei hat den 23. Mai genannt, aber es sei nur ein vermutetes Datum, es könne auch zwei Tage früher oder später passiert sein.«
    Gliese öffnete seinen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher