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Flucht im Mondlicht

Flucht im Mondlicht

Titel: Flucht im Mondlicht
Autoren: N. H. Senzai
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Kleinklima­zonen gab. In Fremont herrschten im Dezember milde achtzehn Grad, doch in San Francisco, das am nebligen Pazifik lag, konnte die Temperatur unter null Grad sinken.
    Fadi stand auf dem Bahnsteig und blickte auf die Gleise hinab, neben denen eine dritte Schiene die neunhundert Volt Strom für die Züge lieferte. Auf die würde ich nicht hinabfallen wollen , dachte er schaudernd. Er sah zu Miss Bethune hinüber. Ihre leuchtend roten Lippen bewegten sich stumm, während sie die Köpfe zählte, um sich zu vergewissern, dass noch alle elf beieinander waren. Als ihr Blick Fadi traf, zwinkerte sie ihm zu. Er lächelte zurück, dankbar für ihr Verständnis.
    Am Tag nachdem Fadi und die »Bruderschaft«, wie er seine Clique nannte, Ike und Felix in den See geworfen hatten, war er noch einmal ins Atelier gelaufen. Mit Rosen aus Dadas Garten in der Hand stand er vor Miss Bethunes Schreibtisch, den Kopf vor Scham gesenkt.
    »Miss Bethune«, sagte er kleinlaut. »Es tut mir leid, wie ich mich gestern benommen habe.«
    Miss Bethune nahm die Blumen entgegen und forderte ihn mit einer Handbewegung auf, vor dem Schreibtisch Platz zu nehmen. »Nun ja, deine Reaktion hat mich schon überrascht«, sagte sie und sah ihn fragend an.
    Jetzt muss ich es ihr sagen , dachte Fadi. Ich schulde ihr die Wahrheit . Er schluckte. Seine Zunge fühlte sich an, als sei sie mit Erdnussbutter überzogen. »Also es war … es war einfach sehr wichtig für mich, den Wettbewerb zu gewinnen.«
    »Verstehe«, sagte Miss Bethune. Ihre glänzenden silbernen Armreifen klimperten, als sie die Hände auf dem Schreibtisch faltete.
    Fadi holte tief Luft und erzählte ihr die Geschichte von seiner verschwundenen kleinen Schwester. Miss Bethunes Miene wurde von Minute zu Minute betroffener und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Immer wieder murmelte sie entsetzt: »Wie furchtbar.« Irgendwann griff sie nach einem Filztuch und schnäuzte sich die Nase.
    »Aber das ist noch nicht alles«, flüsterte Fadi, dessen Augen auch feucht glänzten.
    »Was war noch, Fadi?«, wollte sie wissen.
    Fadi verspürte einen Druck auf der Brust, der ihm das At men erschwerte. Er holte Luft, aber sie blieb ihm im Ha ls stecken. »Wissen Sie …«, begann er, dann verstummte er.
    Miss Bethune schürzte die Lippen und forderte ihn mit einem ermutigenden Nicken zum Weiterreden auf.
    Du musst es ihr erzählen , dachte Fadi.
    E r räusperte sich und fuhr fort. »Als wir losliefen, um den Lastwagen zu erwischen, war Mariam bei mir. Ich war für sie verantwortlich. Sie blieb stehen und wollte, dass ich ihre Barbie in meinen Rucksack packe, aber wir hatten keine Zeit. Plötzlich tauchten die Taliban auf … Wir rannten, aber die vielen Leute … Es war so ein Gedränge … und … und ich ließ ihre Hand los … Sie fiel hin.«
    Miss Bethunes Augen weiteten sich.
    »Verstehen Sie, deshalb ist es meine Schuld, dass sie zurückblieb. Ich war für sie verantwortlich.«
    Jetzt ist es heraus , dachte Fadi. Er senkte den Blick auf Miss Bethunes lange braune Finger. Sie wird mir Vorhaltungen machen , dachte er und machte sich darauf gefasst.
    »Aber Fadi«, sagte Miss Bethune.
    Er sah verwundert auf. Sie klang nicht aufgebracht, sondern traurig.
    Zwei rötliche Flecken brannten auf ihren dunklen Wan ­gen. »So darfst du nicht denken!«
    Fadi stutzte und sah sie mit offenem Mund an.
    »Es war nicht deine Schuld, dass die arme Mariam von euch getrennt wurde.«
    »A-aber … wie können Sie das sagen, Miss Bethune?«, stammelte er. »Ich war für meine kleine Schwester verantwortlich. Ich hielt sie an der Hand. Wenn ich diese blöde Barbie in meinen Rucksack gepackt hätte, wäre Mariam jetzt noch bei uns.«
    Miss Bethune beugte sich über den Schreibtisch. »Weißt du, Fadi, manchmal passieren guten Menschen schlimme Dinge. Du warst in einer Notlage. Wenn du stehen geblieben wärst, um diese verdammte Barbie in deinen Rucksack zu packen, wärt ihr wahrscheinlich beide zurück­gelassen worden.«
    »Oh«, sagte Fadi. Das hatte ich mir gar nicht überlegt .
    »Hör auf, dir im Nachhinein Vorwürfe zu machen. Es war Schicksal, dass es so gekommen ist.«
    Fadi nickte. In seinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Vielleicht war doch nicht alles seine Schuld. Er hatte keinen Einfluss auf die Situation gehabt … Es war Schicksal gewesen, wie Miss Bethune gesagt hatte.
    »Jetzt weiß ich, warum diese Flugtickets dir so wichtig waren.«
    Fadi nickte. Eine ungeheure Erleichterung durchströmte
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