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Flucht im Mondlicht

Flucht im Mondlicht

Titel: Flucht im Mondlicht
Autoren: N. H. Senzai
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ihn. Er war ganz durcheinander und zittrig wie ein umgestürzter Wackelpudding. Obwohl er sich immer noch an Mariams Verschwinden mitschuldig fühlte, war er froh, dass er endlich jemandem die ganze Wahrheit erzählt hatte. Als er mit weichen Knien aufstand, um zu gehen, nahm Miss Bethune ihn in die Arme.
    »Pass auf, Fadi, ich habe eine Idee«, sagte sie und tippte sich mit einem burgunderroten Fingernagel ans Kinn. »Warum organisieren wir nicht eine Spendenaktion?«
    Als Fadi sie verwirrt ansah, fuhr sie fort: »Wir können Geld für ein Flugticket nach Peschawar sammeln.«
    »Wirklich?«, fragte Fadi. Hoffnung flammte in ihm auf.
    »Warum denn nicht? Es gibt Sammelbüchsen in der Schule, und wir haben schon auf alle möglichen Arten Geld für gute Zwecke zusammengebracht, zum Beispiel d urch Autowaschen oder Bingoabende. Ich denke, die Schü ler und Lehrer würden liebend gerne mithelfen, Ma­riam zu finden.«
    Fadi dankte Miss Bethune freudestrahlend und verließ beschwingten Schrittes das Atelier.
    Später erzählte er Anh von der Idee. Sie war begeistert und machte die Bringt-Mariam-heim-Kampagne zu ihrem neuen Projekt. Vielleicht würde es Monate dauern, durch Autowaschen und Kuchenbasare das nötige Geld zusammenzubekommen, aber sie konnten es schaffen. Ein Flugticket für Habib. Fadi wusste, dass es besser war, wenn sein Vater Mariam heimholte. Er selbst würde nach Kräften mithelfen, das Geld für den Flug aufzutreiben, aber sein Vater sollte derjenige sein, der Mariam fand. Dann wäre auch seine Ehre gerettet. Als Fadi nach der Schule heimwärts lief, war ihm leichter ums Herz als in den ganzen letzten Monaten, aber er hatte immer noch Schuld­gefühle. Er musste mit seiner Familie reden und ihr sagen, dass sie nichts dafür konnte, dass Mariam zurückgeblieben war.
    Mehrere Hupsignale, die den nahenden Zug ankündigten, rissen Fadi aus seinen Gedanken. Auf der elektronischen Abfahrtsanzeige leuchtete ORLANDO – SAN FRANCISCO auf. Fadi trat zurück, als der silberne Zug in den Bahnhof einfuhr und sein Fahrtwind ihm durch die Haare pfiff. Anhs Lacklederschuhe glänzten in der Sonne, als sie durch die aufgehende Zugtür sprang. Fadi folgte ihr hinein. Die beiden schnappten sich Sitzplätze am Fenster. Mit einem resignierten Seufzer sah Fadi zu, wie Fremont draußen vorbeiglitt.
    »Wir werden Spaß haben. Du wirst sehen«, sagte Anh. Sie reichte ihm ein Stück Lakritze aus dem Süßigkeitenvorrat, den sie für den Ausflug eingepackt hatte.
    Fadi nahm es und steckte es sich in den Mund. »Wenn du meinst«, murmelte er kauend. Er hatte nicht mitgehen wollen, aber Anh hatte ihm jeden Tag zugeredet, bis er seinen Vater gebeten hatte, die Einverständniserklärung zu unterschreiben. Er hatte eingesehen, dass er Anhs Erfolg nicht mitfeiern konnte, wenn er sich wie ein schlechter Verlierer benahm. Während der süße Geschmack von Anis sich in seinem Mund ausbreitete, schweiften seine Gedanken zu dem Gespräch zurück, das er vor ein paar Tagen mit seinem Vater geführt hatte.
    Nach dem Abendessen waren Safuna und Noor Tante Nilufer besuchen gegangen. Fadi war dageblieben, unter dem Vorwand, noch Mathe-Hausaufgaben machen zu m üssen. Regentropfen schlugen gegen das Fenster, als Fa di und sein Vater sich in der mollig warmen Küche etwas zum Naschen holten. Fadis Nachtisch bestand, wie immer, aus einem aufgeschnittenen Twinkie-Biskuitröllchen, das er mit Erdnussbutter bestrich und mit Bananenscheiben belegte. Habib nahm sich eine Handvoll Zuckermandeln und machte sich eine Kanne grünen Tee. Fadi nahm eine Tüte Milch aus dem Kühlschrank und überlegte sich, wie er seinem Vater die Nachricht am besten beibringen sollte. Er schenkte sich langsam ein Glas ein und starrte auf die aufsteigenden Milchbläschen. Als sie den Rand des Glases erreichten, holte er tief Luft.
    Sag es ihm einfach , befahl er sich und öffnete den Mund. »Vater …«, begann er. »Ich habe erfahren, dass … dass ich den Fotowettbewerb nicht gewonnen habe.«
    »So«, sagte Habib und warf Fadi einen mitfühlenden Blick zu. »Nun, du hast dein Bestes getan.«
    Aber mein Bestes war nicht gut genug , dachte Fadi mit einem dumpfen Schmerz in der Brust. »Aber, Vater«, sagte er. »Verstehst du denn nicht? Ich habe die Flugtickets nach Indien nicht gewonnen und fünfzig Dollar ver­geudet.«
    Habib kaute nachdenklich auf einer Mandel herum und zog einen Band mit Gedichten von Rumi aus einem Bücherregal neben der Mikrowelle. »Sag, hat es dir
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