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Flucht im Mondlicht

Flucht im Mondlicht

Titel: Flucht im Mondlicht
Autoren: N. H. Senzai
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»Sie waren mein bester Student an der Uni­versität von Kabul«, fügte er mit einem müden Lächeln hinzu.
    »Das ist sehr lange her«, sagte Habib und umarmte den Mann zum Abschied herzlich.
    Die Familie sagte dem Fahrer Lebewohl und sah dem davonfahrenden Taxi nach, bis seine kaputten Rücklichter in der Dunkelheit verschwanden.
    Fadi blickte die leere Straße hinab. Auf dem staubigen Pflaster lagen zerbrochene Schilder. Er versuchte, die Wort e darauf zu entziffern. ZAKARIAS PAPIERHANDEL stand auf einem. Ein anderes warb für das beste Schreibpergament in ganz Afghanistan.
    Ein gedämpftes Husten unterbrach die unheimliche Stille. Safuna hielt sich ein Taschentuch vor den Mund. Bevor sie es wegstecken konnte, sah Fadi einen Blutfleck auf dem blütenweißen Stoff.
    Besorgt runzelte er die Stirn. Es geht ihr schlechter, dachte er und blickte seinen Vater an, der ihm auf­mun­ternd zuzwinkerte und den Arm drückte. Fadi lächelte zurück, aber er sah Angst in den Augen seines Vaters – Angst und Entschlossenheit. Als Paschtune war Habib nach dem traditionellen Rechts- und Ehrenkodex Paschtunwali verpflichtet, sein Namus – die Frauen seiner Familie – mit seinem Leben zu schützen. Mit einem leisen Schauder erinnerte Fadi sich an jenen Augenblick vor fast einem halben Jahr, als sein Vater seinen Plan verkündet hatte.
    Es war ein stürmischer Tag im Januar gewesen. Die ganze Familie saß beim Frühstück und versuchte sich mit mehreren Schichten Kleidung warm zu halten. Fadis Mutter brachte eine Platte mit aufgebackenem alten Brot und Käsehäppchen, die ein seltener Genuss waren.
    »Hmmm!«, sagte Mariam. Ihre haselnussbraunen Augen funkelten, als sie ihre Gabel auf die Platte zubewegte. »Es gibt was Gutes zum langweiligen alten Brot … Komm in meinen Bauch, du Leckerbissen.« Als Safuna nickte, spießte die Kleine einen dicken Käsebrocken auf.
    »He!«, protestierte Noor mit gespieltem Ärger. »Lass uns auch etwas übrig.« Sie knuffte Mariam in ihre kitzlige Stelle unter den Rippen, sodass sie laut kicherte.
    »Ich hab doch nur ein ganz kleines Stück genommen!«, krähte Mariam und wich Noor aus.
    »Benehmt euch, Mädchen«, sagte Safuna und warf den beiden einen müden tadelnden Blick zu.
    Mariams Gesichtsausdruck wurde ernst, als sie sich den Käse aufs Brot legte. »Du, Noor«, flüsterte sie.
    » Was ist, Schleckermäulchen?«
    »Ich brauche deine Hilfe.«
    » Wobei?«
    »Ich will Gulmina ein neues Kleid nähen. Zeigst du mir, wie das geht?«
    Neben Mariams Teller saß eine Barbie, um die all ihre Freundinnen sie beneideten. Noor hatte ihrer kleinen Schwester die Puppe überlassen, als sie für solches Spielzeug zu alt geworden war. Und jetzt nahm Mariam Gulmina überallhin mit, obwohl die Puppe schon ziemlich mitgenommen aussah und ihre linke Hand verloren hatte.
    Noor nahm ein Stück Käse und sah ihre kleine Schwester mürrisch an.
    »Bitte, bitte, bitte«, bettelte Mariam. »Ich mache auch die ganze Woche deine Hausarbeit. Ich schäle die Kartof feln und die Rüben, bringe den Müll weg und bügle unsere Sachen.«
    »Ich weiß nicht …«, begann Noor. »Du darfst das Bügeleisen ja nicht einmal anfassen …«
    »Bitte«, flehte Mariam. »Ich mache alles, was du willst.«
    Sie setzte ihren treuherzigen Hundeblick und ihr Grübchenlächeln auf.
    »Schon gut«, seufzte ihre große Schwester. »Ich habe ja nichts Besseres zu tun, als eine neue Garderobe für Prinzessin Gulmina zu entwerfen.«
    »Au ja!«, rief Mariam begeistert und plapperte über die Farben, die das Kleid haben sollte – vor allem lila und rosa –, während sie Gulminas honigblondes Haar flocht.
    Fadi ignorierte die todlangweilige Unterhaltung seiner Schwestern, gab einen Klumpen krümeligen braunen Zucker in seine mit Wasser verdünnte heiße Milch und rührte um. Durchs Fenster beobachtete er die dicken Schneeflocken, die durch die kühle Luft wirbelten und sanft im Garten hinter dem Haus landeten. Er schloss das linke Auge und tat so, als würde er durch den Sucher des alten Fotoapparats schauen, den sein Vater ihm vor ein paar Monaten zu seinem elften Geburtstag geschenkt hatte. Er kniff die Augen zusammen und stellte sich den alten Pflaumenbaum vor einem wolkenlosen blauen Himmel vor. Er wünschte, das Wetter wäre besser. Dann hätte er seinen Vater vielleicht überreden können, mit ihm in die einsamen Berge hinter der Stadt zu fahren, um Fotos zu machen. Aber es war zu kalt und außerdem zu riskant, mit einem
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