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Flucht im Mondlicht

Flucht im Mondlicht

Titel: Flucht im Mondlicht
Autoren: N. H. Senzai
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wurde, das Land ruinierte.
    Mariam nickte ernst. Sie hatte die abgemagerten und zerlumpten Drogensüchtigen gesehen, die an Straßenecken um Essensreste bettelten.
    »Mit der Zeit konnte ich die Bauern überzeugen und dazu bringen, den Mohn zu vernichten und auf ihren Feldern stattdessen Nahrung für die hungernden Menschen anzubauen«, sagte Habib.
    »Euer Vater hat sehr hart gearbeitet«, warf Safuna ein. »Aber es kam anders, als wir gehofft hatten.«
    Fadis Besorgnis wuchs, als er den niedergeschlagenen Gesichtsausdruck seines Vater sah. Habib war immer zuversichtlich gewesen, selbst in den schwierigsten Zeiten.
    »Aber wenn die Taliban so was Gutes gemacht haben, warum sind sie dann jetzt böse?«, fragte Mariam.
    »Mariam«, sagte Safuna in warnendem Ton.
    »Schon gut«, sagte Habib und hob matt die Hand. Er wandte sich mit ernster Miene an seine kleine Tochter. »Das liegt in der menschlichen Natur, Mariam, Jan . Wenn jemand viel Macht erhält, neigt er dazu, sie zu miss­brauchen. Die Taliban waren eine Gruppe junger Koran-Studenten. Als sie an die Macht kamen, brachten sie dem Land zunächst Frieden und Ordnung. Aber durch ihre radikale Auslegung des Islam unterdrückten sie zunehmend das Volk, das sie einst befreien halfen.«
    »Deshalb hast du dir einen Bart wachsen lassen müssen«, sagte Mariam lächelnd und streckte die Hand aus, um das Gesicht ihres Vaters zu streicheln.
    Habib lachte. »Ja, das stimmt. Aber die Taliban begreifen nicht, dass man niemanden zwingen kann, religiös zu sein. Das muss aus dem Herzen kommen.«
    »Es ist einfach ungerecht!«, platzte es aus Noor heraus. »Die Taliban unterdrücken jeden mit einer Version des Islam, die sie selbst erfunden haben. Sie haben alles ver­boten! Musik, Filme, Bücher, das Fotografieren. Man darf nicht einmal mehr Drachen steigen lassen. Zeig mir, wo im Koran das steht. Zeig es mir!«
    Fadi wusste, dass das nicht der Hauptgrund für ihre Empörung war. In Afghanistan trugen von jeher viele Frauen die Burka, einen traditionellen Ganzkörpe r­schleier, auch Fadis Großmutter und seine Tanten. Aber die Taliban hatten das Tragen der Burka zur Pflicht gemacht. Nun waren alle Frauen gezwungen, sich von Kopf bis Fuß zu verhüllen, wenn sie das Haus verließen. Und das Schlimmste war, dass die Taliban alle Mädchenschulen geschlossen hatten. Sie behaupteten, dass die Schulen wieder geöffnet würden, wenn im Land erst wieder Ordnung und Sicherheit herrschten.
    »Unterdrückung ist in Allahs Augen das größte Übel«, murmelte Safuna. »Er verzichtet darauf und verlangt das auch von uns.«
    »Das ist wahr«, sagte Habib. »Aber leider herrscht auf der Welt viel Unterdrückung. Zwischen einzelnen Menschen, zwischen Gruppen und zwischen Völkern.«
    Fadi seufzte. Das Leben in Afghanistan war für seine Familie immer gefährlicher geworden, besonders seit dem letzten Besuch der Taliban in ihrem Haus.
    »Wo bleiben sie denn?«, murrte Noor und riss Fadi aus seinen Gedanken. Sie klopfte mit dem Fuß auf den Boden und zog ihre Burka zurück, sodass ihre funkelnden braunen Augen und die gewölbten Brauen zum Vorschein kamen.
    »Sie müssen jede Minute eintreffen«, sagte Habib in besänftigendem Ton.
    Fadi zog seine kleine Schwester unter die zerrissene Markise zurück, als sie sich vorsichtig auf einen mageren Hund zubewegte, der mit der Schnauze in einem Abfallhaufen wühlte. Die sonst so fröhliche Mariam hatte während der nervenaufreibenden sechsstündigen Fahrt von ihrem Haus in der Hauptstadt Kabul nach Dschalalabad kein Wort gesprochen. Nun drückte sie Gulmina an sich und blickte zu Fadi auf. Auf ihrem runden Gesicht lag ein missmutiger Ausdruck.
    »Es ist toll dort, du wirst sehen«, flüsterte er. »Wo wir hinreisen, gibt es jede Menge Schokolade. Und Barbies«, fügte er grinsend hinzu.
    Sie nickte und zog die rosarote Burka zurecht, die Gulmina anhatte. Noor hatte sie in der Vorwoche noch schnell genäht, in einem Anfall von Langeweile. Die Taliban hatten alle Spielsachen, die menschliche Figuren darstellten, als frevelhaft verboten. Deshalb war nun auch Gulmina in einen Ganzkörperschleier eingehüllt. »Wenn du meinst …«, murmelte Mariam.
    »Ja, das weiß ich«, sagte Fadi und fuhr ihr durchs Haar. Er spürte, dass Mariam wusste, dass die Familie nie mehr in ihre geräumige Villa in der Shogund-Straße mit den luftigen Räumen und den Pflaumenbäumen im Garten zurückkehren würde. Eigentlich war nur noch ein Pflaumen­baum übrig. Die anderen
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