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Flucht im Mondlicht

Flucht im Mondlicht

Titel: Flucht im Mondlicht
Autoren: N. H. Senzai
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und vorwärtsdrängte.
    »Aua!«, schrie Mariam und verlor das Gleichgewicht, als einer der zerlumpten Jungen sie beiseitestieß.
    »Wir müssen uns beeilen«, rief Fadi, während er seiner kleinen Schwester wieder auf die Beine half und dabei kostbare Sekunden verlor. Sein Herz raste. Noor und sein Vater waren nicht mehr zu sehen. Er packte Mariams verschwitzte Hand und zwängte sich durch die Menschenmenge.
    Der alte Mann, an dem sie vorhin vorbeigekommen waren, lag auf der dreckigen Straße, umringt von den Frauen, die ihn getragen hatten. In Tränen aufgelöst, fragten sie sich, wie sie den erschöpften Alten auf den Last­wagen bekommen sollten. Er sieht schlecht aus , dachte Fadi mit einem Anflug von Mitleid. Aber er konnte den Frauen jetzt beim besten Willen nicht helfen. Er hastete weiter und versuchte, über die Köpfe von zwei Mädchen hinwegzusehen, die am Rand der Menge standen.
    Da ist Vater!
    Habib stand nur wenige Meter entfernt auf der Stoßstange des Lastwagens und ließ den Blick über die Menge schweifen. Seine Augen weiteten sich, als er Fadi sah. »Hierher, mein Sohn!«
    Fadi entdeckte eine Lücke zwischen zwei Frauen in Burkas und zwängte sich hindurch. Gleich sind wir auf dem Lastwagen . Er erreichte ein Hinterrad, als ein panischer Schrei durch die Menge gellte.
    »Sie kommen!«, rief eine angsterfüllte Stimme.
    Die Menge drängte sich um den Lastwagen und drückte Fadi und Mariam gegen den Hinterreifen.
    »Wer?«, brüllte jemand vom Lastwagen herunter.
    »Ich bekomme keine Luft mehr!«, wimmerte Mariam.
    »Die Taliban!«, schrie die erste Stimme.
    Aus der Richtung des Teeladens war das Quietschen von Autoreifen zu hören.
    Schreie ertönten am Rand der Menge. Das Gedränge wurde noch größer. Alle wollten schnell auf den Last­wagen gelangen. Drei Männer kletterten auf die Lade­fläche und hielten sich an den Seilen fest, mit denen das Planverdeck an den metallenen Seitenwänden befestigt war.
    »Ich fahre jetzt los!«, brüllte der Fahrer nervös.
    Fadi zwängte sich ein Stück seitwärts, zur Ladeklappe, als starke Hände sich ihm entgegenstreckten und ihn am Hemd packten. »Ich hab dich!«, rief Habib.
    »Aua!«, schrie Mariam, die ins Stolpern geriet, aber Fadis Hand nicht losließ.
    »Halt Mariam fest!«, schrie Habib, als der Motor aufheulte.
    »Ich hab sie«, rief Fadi seinem Vater zu.
    Habib begann Fadi hochzuziehen. »Halte sie gut fest«, sagte er. »Ich werde euch beide hochheben.«
    »Gulmina!«, schrie Mariam. Fadi blickte sich hektisch nach ihr um und sah etwas Rosarotes zu Boden fallen.
    »Wir können sie nicht dalassen!«, kreischte Mariam und drehte sich abrupt nach ihrer Puppe um.
    »Nein!«, schrie Fadi und griff mit der anderen Hand nach ihr, um sie besser festhalten zu können, aber er bekam sie nicht zu fassen. Instinktiv umklammerte er weiter Mariams Hand, aber ihre feuchten Finger entglitten seinen, als der Lastwagen anfuhr und beschleunigte.
    Habib zog ihn mit einem Ruck hoch und Mariam purzelte zu Boden.
    »Lass los, Vater!«, schrie Fadi verzweifelt. Er versuchte sich aus Habibs Griff zu befreien, aber er war bereits auf der Ladefläche.
    Vater und Sohn blickten einander entsetzt an, als der Lastwagen die schmale Straße hinaufraste und die übrigen Leute zurückließ. Mariam wurde von der flüchtenden Menge verschluckt. Ein kleines Mädchen in einem Meer von Fremden. Schreie zerrissen die Luft, als ein schwarzer Geländewagen in der Nähe des ausgebrannten Autos wendete und sich schnell näherte. Männer mit langen Bärten und schwarzen Turbanen lehnten sich seitlich heraus und deuteten zum Lastwagen.
    Der Fahrer gab Gas. Die Reifen quietschten, als er scharf abbog und mit rasanter Geschwindigkeit mitten durch ein zerbombtes Lagerhaus auf eine schmale Parallel­straße hinüberfuhr. Fadi hockte hinter der Ladeklappe und starrte ungläubig hinaus.

Asyl
    Fadi hielt die Bordkarte in der Faust und starrte aus dem kleinen runden Fenster. Große weiße Federwolken trieben über den türkisfarbenen Himmel. Sein Buch, Die heim­lichen Museumsgäste , lag auf seinem Schoß, aber er hatte bisher kein Wort gelesen. Wenn er hineinschaute, verschwammen die Buchstaben vor seinen Augen und ergaben keinen rechten Sinn. Mit einem tiefen Seufzer schloss er die Augen, lehnte sich in seinem Sitz zurück und versuchte an irgendetwas anderes zu denken, aber es gelang ihm nicht. Schuldgefühle verzehrten ihn und seine Gedan­ken schweiften immer wieder zu der Nacht ihrer Flucht
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