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Flucht im Mondlicht

Flucht im Mondlicht

Titel: Flucht im Mondlicht
Autoren: N. H. Senzai
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waren nach dem Krieg gefällt und als Brennholz verheizt worden. Und das Haus war baufällig, weil seit Jahren das Geld für die nötigen Reparaturen fehlte.
    »Denk immer daran, dass du unter keinen Umständen irgendwem deinen richtigen Namen sagen darfst«, ermahnte Habib Mariam leise und mit strenger Miene. »Wenn jemand dich fragt, dann sag, wir wären Bauern, die vor den Kämpfen in unserem Dorf geflohen sind.«
    Mariam schluckte und nickte. Ihr Vater hatte ihr schon mehrmals eingeschärft, niemandem zu sagen, wer sie waren. Sonst würden sie womöglich verhaftet und nach Kabul zurückgebracht.
    »Und Fadi, hör zu! Wenn der Lastwagen auftaucht, muss es schnell gehen.«
    Fadi nickte und straffte sich.
    Habib blickte auf sein Handgelenk hinab, aber es war nackt. Er hatte seine Armbanduhr am Morgen ihres Aufbruchs ihrem treuen Hausangestellten Schamin geschenkt. »Wie spät ist es, Noor?«, fragte er und zupfte nachdenklich an seinem weißmelierten Bart.
    »Sieben Minuten nach Mitternacht«, erwiderte Noor nach einem Blick auf ihre Mickymausuhr mit dem aus­gefransten Armband, deren Ziffern im Dunkeln leuch­teten.
    Ein schreiender Esel kam um die Ecke, dicht gefolgt von seinem Besitzer. Die Familie wich gegen das Gebäude zurück, um sich im Schatten der Markise zu verbergen. Fadi spähte um die Betonmauer und sah, wie der ein­beinige Mann das langohrige Tier streichelte. Er schloss das linke Auge und stellte sich vor, er würde die Szene durch den Sucher seines Fotoapparats beobachten. Sie hatte etwas Trauriges und Anrührendes. Viele Männer, Frauen und Kinder im ganzen Land hatten durch explodierende Landminen Glieder verloren. Fadi bekam feuchte Augen und blinzelte. Trotz all der Probleme in Afghanistan blieb dieses Land seine Heimat. Angst beschlich ihn. Würde er es je wiedersehen?
    »Oh, Röschen, meine liebe vierbeinige Freundin«, sagte der Mann mit sanfter Stimme. »Lass uns heimgehen. Du bekommst heute Kartoffelschalen zum Abendessen.«
    Röschen versuchte, ihren Besitzer zu beißen. Mariam unterdrückte ein Kichern.
    Fadi lächelte und schüttelte seine düsteren Gedanken ab. Er musste wieder an die kluge Ausreißerin Claudia denken. Uns muss die Flucht gelingen . Er wollte sich nicht vorstellen, was die Taliban mit seinem Vater machen würden, wenn sie seine Familie erwischten.

Entrissen
    Um 0 Uhr 42 bog ein armeegrüner Lastwagen um die Ecke und hielt ein paar Häuser weiter. Sein Planverdeck blähte sich im Wind, als der Fahrer bremste und die Scheinwerfer ausschaltete. Habib trat aus dem Dunkel, um besser zu sehen, aber plötzlich gab der Fahrer Gas und fuhr davon. Der Lastwagen verschwand um die Ecke. Einen Fluch murmelnd, ging Habib zu seiner Frau zurück. Sie saß auf einer Kiste, die Noor gefunden hatte.
    Mit einer Hand hielt Fadi immer noch Mariams dünnen Arm fest, mit der anderen umklammerte er den Gurt seines Rucksacks. Darin befand sich alles, was er besaß: Kleidung zum Wechseln, das Familienfotoalbum, seine Matchbox-Autos, eine alte Honigbüchse und sein Fotoapparat, die alte Minolta XE . In letzter Minute hatte er noch sein zerfleddertes Exemplar von Die heimlichen Museumsgäste hineingeworfen, das keinen Einband mehr hatte. Es war das einzige Buch, das er vor dem Verkauf hatte retten können.
    Seit Bücher verboten waren, kauften und verkauften die Leute sie heimlich auf dem Schwarzmarkt. Alle paar Monate hatte Fadi seine Mutter und Noor zu einem sorgsam ausgewählten Ort begleitet, wo ein Buchhändler, dessen renommiertes Geschäft geplündert und geschlossen worden war, alte Bücher anbot. Innerhalb von Minuten sahen sie die Stapel durch, trafen ihre Auswahl, packten die gekauften Bücher in Taschen und versteckten sie unter Bergen von Gemüse. Dann machten sie sich schnell auf den Heimweg.
    Im Bücherregal in ihrem Wohnzimmer standen nur noch diverse religiöse Werke und Habibs Fachliteratur über Landwirtschaft. Alle anderen Bücher der Familie – dicke Romane, Verssammlungen des großen afghanischen Dichters Rumi, Kinderbücher und Zeitschriften – waren in dem ungenutzten Hühnerstall versteckt, der im Garten hinter dem Haus stand, neben dem einzigen Pflaumenbaum, der nicht zu Brennholz zerhackt worden war. Bei einem Sturz von diesem Pflaumenbaum hatte Fadi sich als Achtjähriger die Nase gebrochen.
    »Fadi, mir ist langweilig«, flüsterte Mariam und stocherte mit einem Stock, den sie gefunden hatte, in einem Stapel aufgeweichten Papiers herum.
    »Mir auch«, seufzte Fadi.
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