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Flucht im Mondlicht

Flucht im Mondlicht

Titel: Flucht im Mondlicht
Autoren: N. H. Senzai
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zurück.
    Er sah das gequälte Gesicht seines Vaters vor sich, als dieser den Lastwagenfahrer anflehte, umzukehren. Aber der verängstigte Mann hielt nicht an. Die Taliban waren ihnen dicht auf den Fersen. Zudem bekam er viel Geld, wenn er seine menschliche Fracht über die Grenze brachte. Zunächst begriff Safuna nicht, was los war, aber als Noor ihr erzählte, was geschehen war, wurde ihr blasses Gesicht noch bleicher.
    Völlig verstört saß sie da. Dann schrie sie: »Neiiiin!« Ihr herzzerreißender Schrei gellte durch den Frachtraum. Mit übermenschlicher Kraft sprang sie auf die Ladeklappe zu, aber Noor hielt sie auf. »Wir müssen umkehren! Mein Baby, mein Baby ist noch dort!«, schluchzte Safuna. Erschöpft sank sie zu Boden. »Sie ist ganz allein … Sie ist erst sechs!«
    Fadi hörte, wie seine Mutter voller Verzweiflung die anderen Fahrgäste zu überzeugen versuchte, dass sie anhalten und umkehren mussten, um ihre kleine Mariam zu holen. Aber die Leute sahen weg. Sie konnten nicht anhalten. Sonst würden sie alle verhaftet oder gar getötet. Noor hielt ihre weinende Mutter in den Armen und versuchte sie zu trösten, so gut sie konnte. Ihr verschreckter Blick huschte von ihrem Vater zu Fadi. Habib versuchte, aus dem Lastwagen zu klettern, aber die anderen Männer hielten ihn fest und rangen ihn nieder. Das wäre Selbstmo rd gewesen – entweder er wäre beim Sturz vom Lastwagen ums Leben gekommen oder ihre Verfolger, die Taliban, hätten ihn umgebracht.
    Fadi hockte zusammengekauert in einer Ecke und musste immer wieder an den Augenblick denken, in dem Mariams Hand ihm entglitten war. Nach einer halsbreche­rischen Flucht durch das Straßengewirr von Dschalalabad gelang es dem Fahrer, die Verfolger abzuschütteln, indem er in eine Seitengasse auswich. Von dort aus fuhr er auf Nebenstraßen zur Grenze. Als der Lastwagen schließlich Pakistan erreichte, waren Safunas Klageschreie in ein müdes Wimmern übergegangen. Habib hockte an der Lade­klappe und sah zu, wie Afghanistan hinter ihnen verschwand.
    Fadi litt mit seinem Vater, als die anderen Fahrgäste ihn mitleidig ansahen. Habib hatte sein Ghairat – seine Ehre – verloren, weil er unfähig gewesen war, sein Namus – seine Tochter – zu beschützen.
    Aber es war nicht seine Schuld, sondern meine , dachte Fadi. Ich habe keine Ehre mehr. Ich habe Mariam nicht beschützt.
    Fadi öffnete die Augen und blickte irritiert zu Noor hinüber, die rechts neben ihm saß, mit Kopfhörern in den Ohren. Von seinem Platz aus konnte er den dumpfen Rhythmus von Trommeln und das schrille Klirren von Zimbeln hören. Er fragte sich, ob Noor davon taub werden würde. Aber sie schien gar nicht zu merken, wie laut die Musik war. Sie saß da und starrte mit finsterer Miene den Gang hinunter. Auf ihrem Schoß lag eine Modezeitschrift, die sie am Londoner Flughafen Heathrow gekauft hatte. Dort hatten sie den Flug für den letzten Abschnitt ihrer Reise genommen. Die Zeitschrift war aufgeschlagen und zeigte ein Fotomodell, das sich in einem tropischen Wald versteckte. Die zarten Rottöne ihres Kleides erinnerten an eine Orchidee. Noor hatte seit ihrem Abflug vor ein paar Stunden nicht umgeblättert. Fadi blickte zu seinen Eltern hinüber, die auf der anderen Seite des Ganges saßen. Safuna schlief, in ihrem Sitz zusammengesunken, während Habib die Dokumente durchsah, die sie vom amerikanischen Konsulat in Peschawar erhalten hatten.
    Die Papiere hatten schon für sie bereitgelegen. Dafür hatte ein alter Studienkollege Habibs aus den Vereinigten Staaten gesorgt. Auf die Mappe war das Wort »Asyl« gestempelt. Der amerikanische Konsul hatte gesagt, dass Flüchtlinge, die in ihrem eigenen Land in Gefahr waren, von der amerikanischen Regierung eine Einreiseerlaubnis erhielten.
    Wir waren tatsächlich in Gefahr , dachte Fadi und beobachtete die langen Finger seines Vaters, die langsam die Papiere durchblätterten. Er erinnerte sich an jene kalte Nacht, in der Habib Besuch von den Taliban erhalten hatte, als die Familie gerade beim Abendessen saß.
    »Schon wieder Rübeneintopf?«, maulte Mariam. »Den essen wir jetzt schon seit drei Tagen.«
    »Hör auf zu meckern«, sagte Safuna. »Es gibt Tausende von Straßenkindern, die nicht einmal ein Stück schimmeliges Brot zu essen haben.«
    Mariam verschränkte die Arme vor der Brust und zog einen Schmollmund.
    »Nun iss schon, Mariam, Jan «, redete Habib ihr zu. »Danach gibt es, glaube ich, noch ein Glas Pflaumenmarmelade. Wäre das
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