Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Flucht im Mondlicht

Flucht im Mondlicht

Titel: Flucht im Mondlicht
Autoren: N. H. Senzai
Vom Netzwerk:
Fotoapparat gesehen zu werden. Er öffnete die Augen, als sein Vater sich räusperte.
    »Ich habe euch etwas mitzuteilen«, sagte Habib.
    Stirnrunzelnd wandte Fadi den Blick vom Schneegestöber ab. Sein Vater klang anders als sonst.
    »Die Situation hier ist für uns zu unsicher geworden«, sagte Habib. Er hatte tiefe Ringe unter den Augen, als hätte er mehrere Nächte nicht geschlafen.
    ›Unsicher‹ ist gar kein Ausdruck! , dachte Fadi, während er wieder seine Milch umrührte. In den letzten Jahren waren die Zustände in Afghanistan immer beängstigender geworden. Selbst wenn man nur Brot einkaufen ging, konnte man in alle möglichen Schwierigkeiten geraten.
    »Deshalb steht mein Entschluss jetzt fest. Wir gehen fort von hier«, verkündete Habib und blickte in die Runde.
    »Wir gehen fort von hier?«, murmelte Fadi. Er blinzelte langsam wie eine verwirrte Eule.
    »Was?«, rief Noor aus. Ihre Gabel fiel laut klirrend auf den Teller.
    Safuna saß ruhig da, als hätte sie die Nachricht er­wartet.
    »Was soll das heißen, dass wir fortgehen, Vater?«, fragte Noor.
    Selbst Mariam, die damit beschäftigt gewesen war, den letzten Rest Honig aus einer Büchse zu kratzen, hielt inne und starrte ihren Vater an. » Warum gehen wir fort?«, fragte sie verwirrt und zog die Augenbrauen zusammen.
    »Eure Mutter braucht eine bessere medizinische Versorgung«, sagte Habib.
    Fadi blickte auf das blasse Gesicht seiner Mutter. Sie zitterte vor Kälte, obwohl sie zwei Pullover, einen alten Mantel von Habib und einen Schal anhatte. Anfang des Winters hatte sie eine Erkältung bekommen, die immer schlimmer geworden war. Die paar Ärzte, die es in Kabul noch gab, hatten weder die nötige Ausrüstung, um zu erkennen, was Safuna genau hatte, noch die nötigen Medikamente, um sie zu behandeln. Ihr Zustand hatte sich weiter verschlechtert, als die Familie in der vorangegangenen Woche ihre Mutter, Fadis Großmutter, neben ihrem Mann im hart gefrorenen Boden beerdigt hatte.
    »Es ist wegen ihnen , stimmt’s?«, sagte Mariam mit wissendem Blick. Sie war sehr schlau für eine Sechsjährige.
    Alle wussten, wen sie meinte: die Taliban.
    »Ja, mein Schatz«, seufzte Habib, streckte den Arm über den Tisch und zerzauste ihr feines rotbraunes Haar. »Die Taliban haben uns das Leben hier ziemlich schwer gemacht.«
    Safuna legte die Hände um ihre dampfende Tasse. »Es musste ja so kommen«, murmelte sie und unterdrückte einen Hustenanfall.
    »Da hast du wohl recht, Safuna, Jan «, sagte Habib mit einem tiefen Seufzer. »Wir hätten nicht zurückkommen sollen.«
    »Du wolltest nur das Beste für das Land … für die Menschen«, erwiderte Safuna. Sie streichelte die Hand ihres Mannes. In ihrem Blick lagen Traurigkeit und eine Spur Mitleid.
    Mariam runzelte die Stirn und blickte von ihrer Mutter zu ihrem Vater. »Was soll das heißen: ›Wir hätten nicht zurückkommen sollen‹?«
    »Mariam, Jan «, sagte Safuna mit resigniertem Blick zu ihrer kleinen Tochter. »Ich habe dir doch erzählt, dass wir früher in Amerika lebten. Erinnerst du dich?«
    Mariam nickte. »Vater hat dort an der Universität studiert, um Landschaftsdoktor zu werden oder so was.«
    Noor rümpfte die Nase. »Doktor der Landwirtschaft, du Dummerchen.«
    »Ja, Doktor der Landwirtschaft«, sagte Mariam und schnitt ihrer besserwisserischen großen Schwester eine Grimasse.
    »Du bist in Amerika geboren, in Wisconsin«, fügte Noor hinzu.
    »Aber warum sind wir dann nach Afghanistan zurück gegangen?«, fragte Mariam und trommelte mit ihren kleb­ri­gen Fingern auf den Tisch. Die Honigbüchse war ver­gessen.
    »Vater und Mutter wollten den Menschen in Afghanistan helfen«, sagte Fadi, um sie zum Schweigen zu bringen. Er wollte wissen, wie seine Familie das Land verlassen würde.
    »Und ihr habt den Leuten geholfen, stimmt’s?«, fragte Mariam hartnäckig weiter.
    Safuna presste missbilligend die Lippen zusammen, weil Mariam keine Ruhe gab, aber sie sagte nichts.
    Fadi rollte die Augen. Irgendwie schaffte es seine kleine Schwester, mit allem durchzukommen.
    »Ja, Mariam, Jan «, erklärte Habib, als versuchte er sich selbst an alles zu erinnern. »Als wir nach Afghanistan zurückkehrten, baten mich die Taliban, ihnen zu helfen, das Land von den großen Mohnfeldern zu befreien, die zur Herstellung von Drogen angelegt wurden.«
    Fadi hatte all das schon gehört – wie Afghanistan zum größten Opiumproduzenten der Welt wurde und wie das Heroin, das aus dem Schlafmohn gewonnen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher