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Ferne Tochter

Ferne Tochter

Titel: Ferne Tochter
Autoren: Renate Ahrens
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dass wir so normal miteinander geredet haben.
    Kurz darauf finden wir die Grabstätte meiner Familie, ein Vierergrab. Heidekraut und Buchsbaumkugeln. Ein schwarzer Grabstein aus poliertem Marmor, mit goldenen Buchstaben.
     
    Manfred Wolf
    * 22. 2. 1944 † 26. 4. 2006
     
    Ich fühle nichts. Was hat der Bestattungsunternehmer gesagt? Das Grab hinten rechts ist belegt. Soll Mutter neben Vater, also hinten links, beerdigt werden? Oder auf einer der vorderen Grabstellen? Dazu gab es keine Anweisung auf ihren Zetteln.
    Francesco legt seinen Arm um meine Schultern. Ich entscheide mich für vorne links.
     
    Wir essen eine Gemüsesuppe im Café Rosengarten. Die Sonne scheint durchs Fenster.
    »Wie viele Personen erwarten Sie am Donnerstag zum Kaffeetrinken?«, fragt mich die Geschäftsführerin.
    »Ich kann es Ihnen leider nicht sagen … Es können zehn oder auch dreißig sein.«
    Sie macht sich eine Notiz. »Keine Sorge, wir haben flexible Stellwände.«
     
    Nachmittags räumen wir Mutters Zimmer aus. Ihre sämtliche Habe passt in drei Umzugskartons.
    Tanja Schmidt schenkt mir ein Buch mit Texten zum Thema Trauer. Sie verspricht, zur Beerdigung zu kommen.
     
    Vincenzo und Selina rufen mich an und wünschen mir viel Kraft.
    Später meldet sich Antonia Bremer. »Ich wollte Sie fragen, ob es Ihnen recht ist, wenn ich bei der Trauerfeier etwas sage, stellvertretend für unser Kollegium.«
    »Natürlich.«
    »Viele Kollegen bedauern es sehr, dass sie Ihre Mutter nicht mehr gesehen haben. Aber außer mir durfte niemand von uns sie besuchen.«
    »Das wusste ich nicht.«
    »Sie hat sich so geschämt.«
    Ich überlege, was ich Antonia Bremer schenken könnte. Vielleicht Mutters Unterrichtsmaterialien.
     
    Es ist Viertel nach sechs. Wir haben Brot, Käse, Trauben und Rotwein eingekauft. Hoffentlich funktioniert die Heizung noch.
    Francesco kennt das Haus bisher nur von außen. Ich schließe auf. Es ist warm. Wenn bloß der Zitronengeruch nicht wäre.
    Wir gehen von Raum zu Raum, Francesco wird immer stiller. In meinem leeren, alten Zimmer entdeckt er die Bleistiftpäckchen an der Wand.
    »Vier Striche, ein Schrägstrich bedeuteten fünf Tage Schwangerschaft«, erkläre ich.
    Er umarmt mich und weint.
     
    Tessa und Fabian kommen um kurz vor sieben.
    »Es tut mir leid, dass Ihre Mutter gestorben ist«, sagt Fabian.
    »Danke.«
    »Bist du traurig oder erleichtert?«, fragt Tessa.
    »Beides«, antworte ich.
    Neugierig betrachtet sie die gerahmten Reisefotos von ihren Großeltern. »So sahen sie aus? Ich hatte sie mir ganz anders vorgestellt.«
    »Wie denn?«
    »Älter.«
    »Für mich waren sie alt.«
    Wir gehen in die Küche, Francesco hat den Tisch gedeckt. Als Erstes entschuldigt er sich bei Tessa dafür, dass er ihr an jenem Abend Geld gegeben hat.
    »I don’t think about it any more.«
    »Well, that’s good. Would you like some red wine?«
    »Yes, please.«
    »In den Unterlagen meiner Mutter habe ich übrigens einen kurzen Brief an dich gefunden«, sage ich und überreiche Tessa Mutters Zettel.
    Sie liest ihn und sieht auf einmal fast aus wie ein Kind, so jung.
    »Schade, dass ich sie nicht kennengelernt habe«, murmelt sie und zeigt Fabian den Zettel.
    Wir fangen an zu essen und erzählen den beiden, wie Mutter ihre Beerdigung geplant hat.
    »Klingt ganz gut«, meint Tessa. »Wirst du irgendwas sagen?«
    Ich schüttele den Kopf, übersetze für Francesco, dass ich nicht vorhabe, bei der Trauerfeier eine Rede zu halten.
    »May I say something?«, fragt Tessa.
    »Yes, of course … wenn dir das wichtig ist …«
    Sie nickt.
    Und wenn daraus eine Anklage wird?
    »Aber dich kennt doch keiner«, sagt Fabian.
    »Eben«, antwortet sie und beißt in ihr Käsebrot.
    Wir essen schweigend weiter. Ich denke an die Fotos vom Fresko. Ob Tessa sich dafür interessiert?
    »In which part of Hamburg do you live?«, fragt Francesco nach einer Weile.
    »In Altona«, antwortet Fabian. »We share a flat with three other people.«
    »Du musst mir mal eure Adresse geben«, sage ich.
    »Stimmt.« Tessa lächelt. »Habe ich nicht drangedacht.«
    Nach dem Essen zeige ich ihr die Postkarte, die wir aus Mutters Zimmer mitgebracht haben, und den Stapel mit meinen Fotos.
    »Das ist das Verkündigungsfresko, und hier sind die Detailaufnahmen.«
    Obenauf liegt das Gesicht des Engels.
    Tessa vergleicht es mit der Postkarte. »Wow«, murmelt sie.
    Sie schiebt ein paar Fotos auf dem Tisch hin und her, um zu sehen, wie sie zusammengehören.
    »Darf ich
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