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Ferne Tochter

Ferne Tochter

Titel: Ferne Tochter
Autoren: Renate Ahrens
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da?«
    »Claudia Dressler.«
    »Ach …«
    »Bitte leg nicht auf.«
    Ich sehe meine pausbackige Jugendfreundin vor mir. Zehn Jahre lang haben wir nebeneinander gesessen, alle Geheimnisse miteinander geteilt. Aber als es darauf ankam, hat sie mich im Stich gelassen.
    »Bist du noch da?«
    »Wie hast du meine Nummer rausgefunden?«
    »Ich arbeite in einer Galerie und habe neulich in einem Magazin einen Artikel über restaurierte Fresken der italienischen Renaissance gelesen.«
    Das Interview. Ich habe von Anfang an gewusst, dass es ein Fehler war.
    »Darin wurde erwähnt, dass man dir einen Preis für deine Arbeit verliehen hat.«
    »Du kennst nicht mal meinen Nachnamen.«
    »Ich habe dich auf dem Foto sofort erkannt. Deine blonden Locken, der helle Teint, die grünen Augen. Und dein verhaltenes Lächeln.«
    Ich muss mir nicht anhören, was sie mir sagen will.
    »Seltsam, dass du dich Judith Velotti nennst. Ich dachte, in Italien behalten die Frauen ihren Geburtsnamen, wenn sie heiraten.«
    »Das geht dich nichts an.«
    »Ist er dir so verhasst, der Name ›Wolf‹?«
    Ich schließe die Augen und hole tief Luft.
    »Übers Internet habe ich die Mail-Adresse des Verbands der italienischen Restauratoren herausbekommen«, fährt Claudia fort.
    »Der ist nicht befugt, meine Privatnummer weiterzugeben.«
    »Es war auch nicht so einfach. Ich habe schließlich geschrieben, dass es sich um eine dringende Familienangelegenheit handele. Da hatte die Frau ein Einsehen. Den Italienern geht ja bekanntlich die Familie über alles.«
    »Was willst du?«
    »Judith, wir waren mal sehr gut befreundet …«
    »In einer anderen Welt. Die existiert für mich nicht mehr.«
    »Dein Elternhaus in Winterhude macht einen vernachlässigten Eindruck.«
    »Das hat nichts mit mir zu tun.«
    »Ich dachte nur … vielleicht willst du wissen, wie es um deine Eltern …«
    »Nein«, unterbreche ich sie.
    »Es ist zwanzig Jahre her.«
    »Eben.«
    »Warum bist du immer noch so verbittert?«
    »Du hast kein Recht, dich in mein Leben zu mischen.«
    »Ich habe es nur gut gemeint.«
    »Ruf mich nie wieder an.«
    »Aber …«
    Ich lege auf. Meine Hand zittert.
     
    Seit einer Stunde sitze ich auf der Terrasse und warte. Es weht ein leichter Wind. Ich habe die Pflanzen gegossen und den Tisch gedeckt. Der Jasmin steht in voller Blüte. Sein Geruch hat etwas Betäubendes.
    An der Hauswand lauert ein gelb-brauner Gecko auf eine Mücke, eine Motte. Jetzt läuft er weiter, kopfüber, entlang des Dachvorsprungs. Ich erinnere mich an den Abend, als ich zum ersten Mal auf dieser Terrasse saß. Wie sehr es mich überraschte, dass Francesco mir nicht von seiner Kanzlei oder seiner Familie erzählte, sondern von den Lebensgewohnheiten der Geckos. Ich wusste nicht, dass sie Haftlamellen unter ihren Füßen haben. Ich wusste sehr vieles nicht.
    Es macht mir nichts aus, dass Francesco sich verspätet. Wäre er pünktlich gewesen, hätte ich womöglich das Telefonat erwähnt.
    Warum habe ich den Hörer abgenommen? Es war ein innerer Zwang, ich konnte mich nicht wehren, auch wenn mein Kopf mir sagte, tu es nicht. Die Ansage auf dem AB gibt unseren Namen nicht preis, Claudia hätte eine Nachricht hinterlassen, ich hätte sie gelöscht, wenn nötig ein zweites Mal. Danach hätte Claudia es vermutlich aufgegeben, mich erreichen zu wollen.
    Der Gecko schnappt sich einen großen Falter und versucht, ihn zu verschlingen. Er bleibt in seinem Maul stecken, die Flügel flattern. Ich greife nach meinem Wasserglas. Der Gecko lässt sich nicht stören. Erst als ich aufstehe, verschwindet er samt Beute in einer Mauerritze.
    Ich trete ans Geländer. Der Petersdom ist hell erleuchtet. Mein Blick wandert über die Stadt bis zu den Albaner Bergen im Süden. Dort funkeln die Lichter der kleinen Dörfer, in denen wir im Herbst den neuen Wein probieren.
    Seit zwanzig Jahren vergeht kein Tag, an dem ich nicht an Hamburg denke. Was ist anders als sonst? War es Claudias Stimme? Die Erwähnung meines Elternhauses, meines geliebten Stadtteils Winterhude?
    Nein, es war das Wort ›vernachlässigt‹.
    »Judith, tut mir leid!«
    Ich drehe mich um.
    Francesco nimmt mich in die Arme und gibt mir einen Kuss. »Du hättest schon essen sollen.«
    »Ich esse lieber mit dir zusammen.«
    Er fährt sich mit den Fingern durch seine dichten, grauen Haare, wie immer, wenn er erschöpft ist.
    »In der Kanzlei ist die Hölle los. Es gibt einen großen Konflikt zwischen zwei Partnern …«
    »Setz dich erst mal.
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