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Ferne Tochter

Ferne Tochter

Titel: Ferne Tochter
Autoren: Renate Ahrens
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aber ich kann heute nicht in ihrem Garten sitzen und den spielenden Kindern zusehen.
    Sonst gehe ich dienstags am frühen Abend ins Fitnessstudio. Oder Walken, an weniger heißen Tagen. Bewegung tut mir gut. Heute nicht. Heute lähmt mich der Schwindel. Ich kann nicht einmal lesen.
    Ich schalte einen Klassiksender ein und lege mich aufs Sofa. Klaviermusik, eine Mazurka von Chopin. Es folgt die Ouvertüre zu Mozarts
Zauberflöte.
Ich denke an die Aufführung in New York im letzten Winter. Francescos Weihnachtsgeschenk.
    Die Ankündigung des nächsten Stücks verpasse ich. Bei den ersten Klängen bricht mir der Schweiß aus. Beethoven. Das Violinkonzert. Jeden Sonntag, zwischen Kirchgang und Mittagessen lauschte Vater dieser Musik.
    Ich springe auf, um das Radio auszuschalten.
    In diesem Moment kommt Francesco ins Wohnzimmer. »Judith, was ist …«
    »Ich kann das nicht hören.«
    »Aber wieso …«
    Ich dränge mich an ihm vorbei und drücke auf den Knopf.
    »Es war schön.«
    »Das Lieblingsstück meines Vaters!«
    Er nimmt mich in die Arme und streicht mir über den Kopf. Jetzt nicht weiter über die Eltern reden.
    »Es ist mir unbegreiflich, wie jemand diese Musik lieben und seine Tochter schlagen kann.«
    Ich reiße mich los und verberge mein Gesicht in den Händen.
    »Und die betrunkene Mutter schaut zu.«
    Nichts davon ist wahr. Ich werde ihm nie sagen können, warum ich ihn angelogen habe.
    »Dir geht’s nicht gut, oder? Normalerweise bist du um diese Zeit doch immer beim Sport.«
    »Ich habe heute auf dem Gerüst plötzlich einen Schwindelanfall bekommen …«
    »Hattest du zu wenig gegessen?«
    »Nein. Vielleicht hängt es mit dem Anruf zusammen …«
    »Mit welchem Anruf?«
    »Gestern hat sich eine frühere Freundin aus Hamburg bei mir gemeldet.«
    »Aha …«
    »Sie sagte, dass mein Elternhaus einen vernachlässigten Eindruck mache. Ich habe ihr geantwortet, dass das nichts mit mir zu tun habe.«
    »Judith …«
    »Ich will nicht wissen, wie es um meine Eltern bestellt ist!«
    »Familie ist so wichtig.«
    »Hör auf!«
    »Du brauchst nicht zu schreien.«
    »Ich bin mit dem Thema fertig.«
    »Und was ist mit deinem Alptraum? Und deiner plötzlichen Höhenangst?«
    »Der Anruf hat mich aus der Bahn geworfen. Ich muss mich erst mal wieder beruhigen.«
    »Vielleicht wäre es gut für dich, nach Hamburg zu fahren und endlich deinen Frieden zu finden.«
    »Mein Leben dort war die Hölle.«
    »Das ist lange her. Jetzt lebst du hier, mit mir. Du hast ein Zuhause, einen Beruf. Du bist nicht mehr von ihnen abhängig. Sie können dir nichts tun.«
    Wenn du wüsstest.

[home]
    4.
    I ch wache auf. Fahles Licht fällt durch die Fensterläden. Mir ist nicht mehr schwindelig.
    Francesco schläft. Er liegt auf der Seite, die linke Hand unter der Wange, seine Lippen zucken, wie bei einem Kind, das gleich in Tränen ausbrechen wird. Zwischen den Augenbrauen hat sich eine Falte eingegraben, die er sonst im Schlaf nicht hat. Ich möchte sie mit dem Finger glatt streichen, möchte die letzten anderthalb Tage aus unserem Leben streichen.
    Es wird mir nicht gelingen, im Gegenteil, meine Unruhe wächst. Alles Vertraute erscheint mir fern, als sei ich durch eine gläserne Wand von Francesco, seiner Familie, meiner Arbeit getrennt worden.
    Plötzlich weiß ich, dass ich heute nicht zu meinem Gerüst, meinem Engel zurückkehren werde. Und am Samstag werde ich nicht am Willkommensessen für meinen Schwiegervater teilnehmen. Wusste mein Körper schneller als mein Kopf, dass ich nach Hamburg reisen würde? Ist mir deshalb schwindelig geworden?
    Ich stehe auf. Francesco stößt einen Laut aus, als täte ihm etwas weh. Vielleicht träumt er schlecht, träumt von mir.
    Leise schließe ich die Tür und gehe in mein Zimmer. Ich öffne das Fenster, die Luft ist kühl, zum ersten Mal seit Wochen.
    Am Horizont kündigt ein schmaler orangefarbener Streifen den Sonnenaufgang an.
    Ich setze mich an meinen Schreibtisch und klappe den Laptop auf. Es dauert nicht lange, bis ich gefunden habe, was ich suche: tägliche Direktflüge nach Hamburg. Um zwölf Uhr fünfundvierzig ab Fiumicino. Die Maschine heute ist noch nicht ausgebucht. Ich gebe meine Daten ein und zahle, ohne zu zögern. Mir bleiben sechseinhalb Stunden.
    Ich miete mir einen Leihwagen und suche im Internet nach Hotels in Winterhude. Es ist keine Gegend für Hotels. In der Nähe des Flughafens reserviere ich mir ein Nichtraucherzimmer, Frühstück im Café
Hopfen & Malz
nicht
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