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Ferne Tochter

Ferne Tochter

Titel: Ferne Tochter
Autoren: Renate Ahrens
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Francesco oder allein. Ich habe nie Probleme gehabt.
    Dreimal muss ich fragen, bis ich den Abflugschalter finde. Es gibt eine Schlange. Zwanzig nach elf. Zeit genug.
    An der Sicherheitskontrolle ist die Schlange noch länger. Eine Frau beginnt einen Streit, weil man ihr die Nagelschere weggenommen hat. Ich lege meinen Laptop aufs Band. Den Gürtel vergesse ich. Körperkontrolle. Ich mag diese suchenden Hände nicht.
    Ich kaufe mir eine
Repubblica
und eine Flasche Wasser und gehe zum Gate. Eine Reisegruppe aus Hamburg. Der Akzent ist nicht zu überhören. Vier Paare, gut situierte Mitsechziger, braun gebrannt, sportlich elegant, kultiviert. Vater hätte solche Leute verachtet. Wahrscheinlich spielen sie auch noch Golf. Mutter hätte gern Golf gespielt.
    Ich setze mich ein Stück weiter weg.
    Das Flugzeug ist zum Einsteigen bereit. Mein Herz klopft. Ich muss nicht fliegen, ich kann nach Hause fahren, meinen Koffer auspacken und zu meinem Engel zurückkehren.
    Die Passagiere stellen sich an, allen voran die kultivierten Hamburger, einer nach dem anderen zeigt seine Bordkarte vor.
    Fast hätte ich meine in der Hand zerknüllt. Ich streiche sie glatt. Es wäre die reinste Selbsttäuschung. Wenn ich heute nicht fliege, werde ich morgen oder in der nächsten Woche wieder hier sitzen. Der Anruf hat etwas in mir zum Einstürzen gebracht, mein mühsam errichtetes Konstrukt, das die Vergangenheit von mir fernhalten sollte.
    Ich stehe auf, nehme meine Tasche und steige als Letzte in die Maschine.
    Ich finde meinen Platz am Gang, neben einem älteren italienischen Geschäftsmann. Er ist in seine Unterlagen vertieft, ich werde meine Ruhe haben.
    Mein telefonino klingelt. Francesco.
    »Hat alles gut geklappt?«
    »… Ja. Wir starten gleich.«
    »Ich habe im Internet gesehen, dass der Zug Verspätung hatte.«
    »Nur ein paar Minuten.«
    »Ich liebe dich.«
    »Sie müssen Ihr Handy ausstellen«, sagt die Stewardess.
    »Ich weiß«, antworte ich.
    Warum hat sie mich auf Deutsch angesprochen?
     
    Ich schrecke hoch. Meine Zeitung ist auf den Boden gefallen. Wie lange habe ich geschlafen?
    Das Anschnallzeichen leuchtet rot auf. Gibt es einen Sturm?
    »Wir werden in Kürze landen«, ertönt es aus dem Lautsprecher.
    Ich beuge mich vor, um aus dem Fenster zu schauen. Wir fliegen durch eine Wolke. Es regnet.
    Die Maschine dreht. Plötzlich tauchen unter uns Wiesen und Wälder auf. Die Landschaft ist so grün. Das hatte ich vergessen.
    »Waren Sie schon mal in Hamburg?«, fragt mein Sitznachbar und lächelt.
    Ich nicke.
    »Eine schöne Stadt.«
    In meinen Ohren rauscht es. Zwanzig Jahre, zwei Monate, vier Tage. Ich schließe die Augen, sehe das winzige Kind. Ein Mädchen.

[home]
    5.
    I ch erkenne den Flughafen nicht wieder, hatte ihn kleiner und abgenutzter in Erinnerung. Das Gepäckband läuft, alle Koffer sind nass.
    Vor zwanzig Jahren war an einen Flug nicht zu denken. Da stand ich mit meinem Rucksack an der Autobahnraststätte Stillhorn.
     
    Na, junge Frau, wollen Sie mit? Der fette Lkw -Fahrer taxiert mich von oben bis unten. Nein, danke. Passt Ihnen meine Nase nicht? Ich gehe ein Stück weiter. Schlampe, ruft er mir nach. Ich schlucke. Bevor ich mit so einem mitfahre, gehe ich lieber zu Fuß. Ein älterer Mann in einem dunkelblauen Mercedes hält neben mir. Darf ich Sie ein Stück mitnehmen? Sein anzügliches Lächeln gefällt mir nicht. Ich schüttele den Kopf. Auch noch wählerisch, was?, schnauzt er mich an, bevor er aufs Gaspedal tritt. Fünf junge Leute in einem alten Golf. Sehen aus wie Studenten. Sie wollen nach Spanien. Bei uns passt leider keiner mehr rein. Viel Glück. Eine der Frauen winkt zum Abschied. Mir schießen Tränen in die Augen. Zelturlaub am Strand. Und ich? Nach zwei Stunden Wartezeit steige ich zu einer Frau in einen Audi. Mitte vierzig, praktische Kurzhaarfrisur. Wir kommen schnell ins Gespräch. Eine Kinderärztin, die ihre Mutter in München besuchen will. Ich atme auf. In einem Rutsch bis München. Sie glaubt mir meine Geschichte vom bestandenen Abitur. Ich habe schon immer älter ausgesehen. Und wo soll’s hingehen? Nach Italien, antworte ich, ohne nachzudenken. Wie schön, sagt sie. Ich kenne nur Italien. Und Deutschland natürlich. Aber hier kann ich nicht bleiben. Hier werden sie mich suchen. Haben Sie keine Angst, als junge Frau allein zu trampen?, fragt die Ärztin. Ich zögere. Man muss sich die Leute genau ansehen. Ich habe eine sechzehnjährige Tochter, der habe ich das Trampen strengstens
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