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Ferne Tochter

Ferne Tochter

Titel: Ferne Tochter
Autoren: Renate Ahrens
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inbegriffen.
    Ich fange an zu packen. Laut Wetterbericht ist es in Norddeutschland kühl und regnerisch. Ich greife nach einem schwarzen Pulli, schwarzen Jeans, schwarzen Longsleeves. Nach ein paar Minuten halte ich inne und entscheide mich für Beige- und Brauntöne. Ich fliege nicht nach Hamburg, um zu trauern.
     
    Gleich zehn nach acht. Ich habe alles erledigt. In einer Stunde muss ich aufbrechen.
    Ich setze mich zu Francesco auf die Terrasse. Er hat uns frische Mandelhörnchen besorgt und Cappuccino vorbereitet.
    »Viel Glück«, sagt er und greift nach meiner Hand. »Ich bin so erleichtert, dass du fährst. Es wird dir guttun.«
    »Hoffentlich …«
    »Am liebsten würde ich mitkommen, aber das ist im Moment einfach nicht drin.«
    Ich sage ihm nicht, dass es für mich undenkbar wäre, mit ihm nach Hamburg zu reisen.
    »Wann bist du wieder da?«
    »Am Sonntag.«
    »Meinst du, das reicht?«
    »Es ist ein Anfang. Was die Arbeit am Fresko angeht, habe ich per Mail eine Beurlaubung beantragt – wegen einer dringenden Familienangelegenheit. Da wird es sicher keine Rückfragen geben.«
    »Und selbst wenn! Du hast noch nie außerplanmäßigen Urlaub genommen!«
    Ich beiße in mein Mandelhörnchen. Zum ersten Mal seit Claudias Anruf habe ich wieder Hunger.
    »Schickst du mir eine SMS , wenn du im Hotel angekommen bist?«
    Ich nicke.
    »Hast du dir ein Taxi bestellt?«
    »Mit dem Zug dauert es auch nicht länger.«
    »Judith, du musst nicht so sparsam sein.«
    »Ich weiß … aber es steckt nun mal tief in mir drin.«
    Das Vermächtnis meines Vaters. In zwanzig Jahren habe ich es nicht gelernt, mich darüber hinwegzusetzen.
    Wir schweigen.
    »Glaubst du, dass sie tot sind?«
    »Kann sein … keine Ahnung.«
    »Wie alt wären sie jetzt?«
    Jahrgang ’ 49 und ’ 44 . Wir haben Freunde, die älter sind. »Meine Mutter wäre zweiundsechzig und mein Vater siebenundsechzig.«
    »Dann ist er zwanzig Jahre jünger als meiner.«
    »Er war schon immer alt.«
     
    Ich sitze im Zug und schaue aus dem Fenster. Die Klimaanlage ist ausgefallen. Drei Männer sprechen in ihre telefonini, ein Kind quengelt, mir gegenüber sitzt eine grell geschminkte, alte Frau und feilt ihre Fingernägel. Francesco würde es nicht ertragen.
    In den Vororten hier und da ein blühender Garten, oleandergesäumte Straßen, dazwischen halbverfallene Häuser. Ich kenne diese Gegend nur von der Zugfahrt nach Fiumicino.
    Allmählich lassen wir die Stadt hinter uns, eine verdorrte Landschaft umschließt die Dörfer und kleinen Industriebetriebe. Verrostete Autos, ausrangierte Kühlschränke, Müllsäcke in den Straßengräben.
    Meine Hose klebt am Plastiksitz. Ich versuche, nicht auf die Nägel der Frau zu blicken. Warum habe ich mir kein Wasser mitgenommen?
    Der Zug hält auf offener Strecke. Es gibt keine Durchsage, was passiert ist. Drei magere Ziegen werden von einem Jungen in abgerissener Kleidung durch die Hitze getrieben.
    Protest kommt vom anderen Ende des Abteils. Fast jeder spricht jetzt in sein telefonino. Ich schließe die Augen und kämpfe gegen die aufsteigende Panik. Noch über zwei Stunden bis zum Abflug. Ich werde die Maschine schon nicht verpassen.
    Es wird immer heißer. Die Fenster lassen sich nicht öffnen. Ein Mann versucht auszusteigen, die Tür ist blockiert. Eine Frau schreit nach dem Schaffner, es kommt niemand. Das Kind brüllt.
    Nach zehn Minuten geht die Fahrt weiter. Ich wundere mich über nichts, ich lebe länger in diesem Land, als ich jemals irgendwo gelebt habe.
     
    Die Sonne brennt auf meinem Kopf. Ich stolpere hinter Vater her. Ich bin acht. Überall liegen Steine und Säulen, die Häuser sind kaputt. Trotzdem haben wir Eintritt bezahlt. Vater hält ein grünes Buch in der Hand und liest uns etwas über die Römer und die Tempel und die großen Tore vor. Triumphbögen heißen die. Was ist ein Triumph? Irgendwas Schönes. Ich muss in den Schatten, sagt Mutter. Er hört nicht auf zu lesen. Wie soll sich das Kind die Namen all dieser Tempel merken, sagt Mutter. Das Kind merkt sich mehr als du. Er schaut hoch, in die Ferne, und aus seinem Mund kommen lauter Wörter, die ich nicht verstehe. Nun lass das doch mit dem Latein, sagt Mutter. Die Leute gucken schon.
     
    »Signora?« Vor mir steht ein Schaffner. »Sie müssen aussteigen.«
    Hastig greife ich nach meinem Koffer.
    Ich eile hinter den anderen Passagieren her, finde mich nur schwer zurecht. Unzählige Male bin ich von Fiumicino aus geflogen, in alle Welt, mit
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