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Ferne Tochter

Ferne Tochter

Titel: Ferne Tochter
Autoren: Renate Ahrens
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durchgehend geöffnet bleibt, ebbt das Stimmengewirr allmählich ab. Den ganzen Vormittag sind Besucherströme an der Kapelle vorbeigezogen, haben Touristenführer in den verschiedensten Sprachen Santa Maria sopra Minerva als einzige gotische Kirche Roms beschrieben, die unschätzbare Kunstwerke enthalte. Leider dürfe die Cappella Carafa zurzeit nicht betreten werden, weil das Fresko
Mariä Verkündigung
von Filippino Lippi restauriert werde. Und trotzdem gibt es immer wieder Leute, die versuchen, unter den Plastikplanen durchzukriechen, um einen Blick darauf zu werfen. Neulich hat eine deutsche Gruppe das Gerüst fast zum Einstürzen gebracht.
    Mein telefonino klingelt. Ich greife in die Tasche meines Overalls. Es ist Francesco.
    »Wie geht es dir?« Seine Stimme klingt besorgt.
    »Die Arbeit lenkt mich ab.«
    »Gut. Hier in der Kanzlei gibt’s nach wie vor viel Ärger.«
    »Wird es wieder spät?«
    »Nein, ganz sicher nicht. Wir haben um fünf eine Krisensitzung, danach komme ich nach Hause.«
    »Hoffentlich findet ihr eine Lösung.«
    »Ich bin skeptisch. Übrigens … wir sind am Samstagabend bei meiner Schwester eingeladen. Ein Willkommensessen für meinen Vater.«
    Ich habe plötzlich einen Kloß im Hals.
    »Bist du noch da?«
    »Ja …«
    »Wir haben doch nichts anderes vor, oder?«
    »Nein …«
    »Du klingst auf einmal so fern. Ist dein Akku gleich leer?«
    »Kann sein …«
    »Ich muss jetzt aufhören. Bis nachher. Pass auf dich auf.«
    Du auch auf dich, denke ich.
    Mir ist schwindelig. Schwankt das Gerüst? Ich kauere mich hin, kralle mich an den Holzplanken fest. Das habe ich noch nie erlebt. Was ist los mit mir? Warum bekomme ich bei der Vorstellung eines Abendessens auf einmal Höhenangst? Ich mag Francescos Familie, habe mich bei ihr immer gut aufgehoben gefühlt. Sein schrulliger Vater ist manchmal etwas anstrengend, aber auch sehr geistreich und humorvoll.
    Ich robbe mich vorwärts, bis zu der Leiter, die nach unten führt. Ich sehe die Sprossen und weiß, ich werde es nicht schaffen, hinunterzusteigen.
    Ich hole tief Luft. Es sind höchstens drei Meter bis zum Boden. Ich habe schon auf Gerüsten gearbeitet, die zwanzig Meter und höher waren. Man wird mich für hysterisch halten, wenn ich um Hilfe rufe.
    Der Schwindel nimmt zu. Gleich Viertel vor zwei. Es ist lächerlich, hier zu sitzen und sich nicht rühren zu können.
    Ich höre vereinzelte Stimmen von Kirchenbesuchern, ein Spanier, eine Italienerin, ein Franzose. Heute versucht niemand, in die Cappella Carafa zu gelangen.
    Zwei junge Frauen unterhalten sich auf Deutsch über ihre Au-pair-Jobs. Ich spüre einen Stich. Die Sprache ist mir so vertraut und gleichzeitig so fern. Gestern, als Claudia angerufen hat, habe ich zum ersten Mal seit Jahren wieder deutsch gesprochen.
    Jetzt nähern sich schlurfende Schritte. Der Küster. Vor ihm brauche ich mich nicht zu schämen.
    »Hallo?«
    Die Plastikplane wird beiseitegeschoben.
    »Signora Velotti!« Der alte Mann schaut erschrocken zu mir nach oben. »Was ist passiert?«
    »Ich weiß nicht …«
    »Warten Sie, ich helfe Ihnen.«
    Er schlurft auf die Leiter zu und hält sie mit beiden Händen fest.
    »Kommen Sie herunter. Ganz langsam.«
    Es dauert eine Weile, bis ich mich aufrichten kann. Der Küster hat Geduld.
    Ich konzentriere mich auf meine Atmung. Der Schwindel lässt ein wenig nach.
    »Soll ich einen Arzt rufen?«
    »Nein …«
    Es hat etwas Beruhigendes, den alten Mann dort unten an der Leiter stehen zu sehen. Sein faltiges Gesicht blickt immer noch zu mir empor. Vorsichtig setze ich einen Fuß auf die erste Sprosse.
    »Meine Frau hatte neulich einen Hexenschuss. Kam wie ein Blitz aus heiterem Himmel.«
    Einatmen, ausatmen.
    »Da ging gar nichts mehr.«
    Dritte Sprosse, vierte Sprosse.
    »Erst als sie eine Spritze bekommen hat, konnte sie sich wieder bewegen.«
    Sechste Sprosse, siebte Sprosse.
    »Sie haben nichts mit dem Rücken. Das sieht anders aus.«
    Wieder packt mich der Schwindel. Ich bleibe mit einem Fuß hängen, drehe mich um.
    »Nicht nach unten gucken.«
    Ich schließe die Augen, meine Füße tasten nach den Sprossen.
    »Gleich haben Sie’s geschafft.«
    Ich höre die Stimme des Küsters wie durch eine Nebelwand.
    Mein rechter Fuß berührt den Boden.
    »Danke …«
    »Soll ich Ihnen einen Kaffee holen?«
    »Nein, ich … fahre am besten sofort nach Hause.«
    »Sind Sie sicher?«
    »Ja. Wie ist Ihr Name?«
    »Meloni.« Er lächelt und entblößt seinen beinahe zahnlosen
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