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Ferne Tochter

Ferne Tochter

Titel: Ferne Tochter
Autoren: Renate Ahrens
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das Mädchen.
    »Wir wohnen erst seit zwei Jahren hier.« Die junge Frau streicht dem weinenden Baby über den Kopf.
    »Wissen Sie, in welches Krankenhaus man sie gebracht hat?«
    »Nein. Aber wenn sie noch lebt, ist sie vermutlich längst in einem Pflegeheim.«
    »Ja …«
    »Warum bist du nicht eher gekommen?«, fragt das Mädchen.
    »Leonie, wir holen jetzt deinen Hamster«, sagt die junge Frau und drückt das Baby an sich.
    »Haben Sie einen Schlüssel für das Haus meiner Mutter?«
    Sie schüttelt den Kopf.
    »Kennen Sie jemanden, der einen hat?«
    »Nein, und selbst wenn … Wer weiß, ob es im Sinne Ihrer Mutter ist, dass Sie ihr Haus betreten.«
    »Ich verstehe Ihre Skepsis. Wenn ich nur irgendeinen Anhaltspunkt hätte …«
    »Wann hast du deine Mama zuletzt gesehen?« Leonie blickt mich mit großen, forschenden Augen an.
    »… Vor zwanzig Jahren.«
    »Komm!«, ruft ihre Mutter.
    Leonie schaut sich noch einmal nach mir um. Ihre Stirn liegt in Falten. Dieses Gespräch wird sie nicht vergessen. Ich wünschte, ich könnte ihr sagen, dass ich nicht herzlos bin.
     
    Ich schnüre meinen Rucksack zu. Hoffentlich kommt Mutter nicht früher aus der Schule. Ein letztes Mal betrachte ich das Bett, den Schrank, den Schreibtisch, die Bücher, die Poster, die Stereoanlage, die Stofftiere. Ich nehme den kleinen Löwen in die Hand, Johannes’ erstes Geschenk. Wir hatten keine Chance. Die Tagebücher wird niemand finden. Das Feuer im Stadtpark hat sie im Nu verbrannt. Fünf Jahre lang habe ich alles aufgeschrieben, das mache ich nie wieder. Ich werde mein Zimmer vermissen. Nur mein Zimmer, sonst nichts. Ich gehe die Treppe hinunter. Plötzlich steht Mutter vor mir. Wo willst du hin? Weiß ich noch nicht. Du kannst doch nicht einfach weggehen. Wieso nicht? Jetzt, wo alles vorbei ist? Ja, genau. Judith. Sie versucht, mich in den Arm zu nehmen. Ich schiebe sie weg. Neun Monate lang hat sie mich nicht umarmt. Es ist zu spät. Kind, das kannst du mir nicht antun, was soll ich denn ohne dich. Hast du mal darüber nachgedacht, was du mir angetan hast? Dein Vater und ich wollten nur dein Bestes. Natürlich, er wusste, was mein Bestes ist, und du hast den Mund gehalten. Wenn du gehst, rufe ich die Polizei; du bist nicht mal volljährig. Und was willst du der sagen? Meine Tochter hat mit einem Rucksack das Haus verlassen. Nehmen Sie sie bitte fest. Mach dich nicht lustig über mich. Lass mich vorbei. Versprich mir, dass du wiederkommst. Heute oder morgen oder in einer Woche. Ich verspreche nichts. Mutter fängt an zu weinen. Ich öffne die Tür und gehe, ohne mich umzudrehen.
     
    Keiner der Nachbarn kann mir weiterhelfen. Sie sind höflich und distanziert. Die junge Frau wird sie angerufen haben, um ihnen zu sagen, wer gleich bei ihnen klingeln wird. Stellen Sie sich vor: Zwanzig Jahre lang hat die Tochter sich nicht blicken lassen. Was ist eigentlich mit Herrn Wolf? Tot. Ja, das dachte ich mir.
    Stehen sie an ihren Fenstern und beobachten mich? Nein. Ich kann hier nichts wiedergutmachen.
    Viertel vor sieben. Soll ich für heute aufgeben und zum Hotel zurückfahren? Morgen früh rufe ich die Krankenhäuser und umliegenden Pflegeheime an. Irgendwo muss es Unterlagen darüber geben, wo Mutter ist. Oder wo sie war, bis sie starb.
    Ich gehe die Timmermannstraße entlang. In der Nummer einundzwanzig wohnte meine erste Lehrerin, eine Kollegin von Mutter. Frau Steffen. Ich habe sie geliebt. Sie war älter als Mutter, viel älter. Wahrscheinlich lebt sie nicht mehr.
    Ich schaue auf die Schilder.
Steffen.
Ob sie etwas weiß? Befreundet waren sie nicht.
    Ich drücke auf die Klingel. Und warte.
    »Wer ist da?«, fragt eine zittrige Stimme.
    »Entschuldigen Sie bitte die Störung. Mein Name ist Judith Velotti. Sie haben mich vor mehr als dreißig Jahren in der Grundschule unterrichtet. Damals hieß ich … Wolf mit Nachnamen.«
    »… Judith … Wolf?«
    »Ja.«
    Schweigen. Versucht sie, sich an mich zu erinnern? Sie wird in ihrem Leben Tausende von Schülern gehabt haben. Vielleicht ist sie dement und weiß nicht mehr, dass sie jahrzehntelang Lehrerin war. Oder sie ist empört, dass ich hier auftauche.
    »Kommen Sie … Ich wohne im ersten Stock.«
    Der Summer ertönt. Ich trete ins Treppenhaus.
    Sie erwartet mich an ihrer Wohnungstür, gestützt auf einen Rollator. Ich erschrecke. Die mollige Frau Steffen hat sich in ein dünnes, hohlwangiges Wesen verwandelt; von ihrem dichten, braunen Haar sind nur ein paar gelblich weiße
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