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Die Auserwaehlte

Die Auserwaehlte

Titel: Die Auserwaehlte
Autoren: Raymond E. Feist
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Eins

    Lady

    Der Priester schlug den Gong.
    Der Klang strömte durch die mit herrlichen Schnitzereien in den unterschiedlichsten Farben verzierte Kuppel des Tempels; sein Echo wurde von der Wölbung hin und her geworfen und verhallte schließlich ganz, bis nichts mehr übrigblieb außer der geisterhaften Erinnerung an einen einzelnen Ton.
    Mara kniete auf den kalten Stufen des Tempels, die ihrem Körper jede Wärme zu entziehen schienen. Sie zitterte, wenn auch nicht vor Kälte, und warf einen flüchtigen Blick nach links, wo ein anderes Mädchen in ähnlicher Pose wartete; genau wie Mara erhob sie jetzt die weiße Kopfbedeckung einer Novizin des Ordens von Lashima, Göttin des Inneren Lichts. Der wie ein Zelt über ihrem Kopf drapierte Stoff zwang sie zu einer unangenehmen Haltung, und Mara konnte kaum den Augenblick erwarten, da sie die Kopfbedeckung würde herunter lassen und befestigen können. Obwohl sie das Ding erst ein kleines Stück erhoben hatte, schien es ihr bereits, als zerrte der Stoff wie Steingewichte an ihren Armen! Der Gong erklang wieder. Er erinnerte Mara an die ewigwährende Gegenwart der Göttin, und sie zuckte wegen ihrer respektlosen Gedanken innerlich zusammen. Gerade jetzt durfte ihre Aufmerksamkeit nicht nachlassen. Still bat sie die Göttin um Vergebung, flehte um Ruhe und Stärke; Müdigkeit und Aufregung hatten sich inzwischen mit Besorgnis gemischt. Mara betete zu ihr, um durch sie den inneren Frieden zu erhalten, den sie so inbrünstig herbeisehnte.
    Wieder dröhnte der Gong. Es war der dritte von insgesamt zweiundzwanzig Schlägen; zwanzig für die Götter, einer für das Licht des Himmels und einer für die unvollkommenen Kinder, die jetzt darauf warteten, in den Dienst der Göttin der Weisheit des Oberen Himmels zu treten. Mit siebzehn Jahren stand Mara kurz davor, dem weltlichen Dasein zu entsagen und – nach neunzehn weiteren Gongschlägen – das Mädchen links von ihr Schwester zu nennen, obwohl sie sich vor zwei Wochen zum ersten Mal begegnet waren.
    Mara betrachtete ihre zukünftige Schwester: Ura war ein übellauniges Mädchen aus einer clanlosen, aber wohlhabenden Familie aus der Provinz Lash, während Mara zu einer alten und mächtigen Familie gehörte, den Acoma. Uras Beitritt war von ihrem Onkel befohlen worden, der sich selbst zum Familienoberhaupt ernannt hatte und dem es einzig darum ging, daß seine Familie in einen Clan – welchen auch immer – aufgenommen wurde. Uras Eintritt in den Orden war eine öffentliche Demonstration der Frömmigkeit ihrer Familie. Mara dagegen hatte sich beinahe ihrem Vater widersetzt, nur um von dem Orden aufgenommen zu werden. Als die beiden Mädchen zum ersten Mal ihre persönlichen Geschichten ausgetauscht hatten, war Ura zunächst ungläubig gewesen, hatte sich dann jedoch beinahe darüber empört, daß die Tochter eines so mächtigen Herrn hinter den Mauern eines Ordens ewigen Schutz suchte. Maras Herkunft garantierte ihr eine angesehene Stellung innerhalb ihres Clans, mächtige Verbündete, eine Reihe gutsituierter Freier und die Gewißheit, eines Tages den Sohn eines anderen mächtigen Hauses zu heiraten. Ura dagegen wurde ein solches Opfer abverlangt, damit in späteren Generationen ihrer Familie den Mädchen einmal all das zur Verfügung stehen würde, was Mara zurückweisen wollte. Nicht zum ersten Mal stellte Mara sich die Frage, ob Ura als Dienerin dieses Ordens wirklich geeignet war. Aber wie jedesmal, so zweifelte sie auch jetzt an ihrer eigenen Eignung für die Schwesternschaft.
    Ein weiterer voller, tiefer Ton erklang. Mara schloß einen Augenblick die Augen; sie erbat Trost und Rat von der Göttin.
    Wieso wurde sie immer noch von Zweifeln geschüttelt? Nach achtzehn weiteren Schlägen würde sie ihre Familie, ihre Freunde und das gesamte, vertraute Leben für immer verloren haben. Ihr ganzes Leben würde dann weit hinter ihr liegen, angefangen von den frühen Spielen ihrer Kindheit bis zu den Sorgen der vornehmen Tochter – über die Rolle, die ihre Familie in dem Spiel des Rates innehatte, oder über den niemals endenden Kampf um Macht und Einfluß, der das gesamte Leben der Tsurani beherrschte. Ura würde ihre Schwester werden, egal, wie groß die Unterschiede ihrer Herkunft auch sein mochten, denn in dem Orden Lashimas gab es keinen Raum für persönliche Ehre oder Familiennamen. Übrigbleiben würde nur ihr Dienst gegenüber der Göttin – ein Dienst, der Keuschheit und Gehorsamkeit verlangte.
    Wieder ertönte der
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