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Die Auserwaehlte

Die Auserwaehlte

Titel: Die Auserwaehlte
Autoren: Raymond E. Feist
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Gong, nunmehr zum fünften Mal. Mara warf einen verstohlenen Blick auf das Podest mit dem Altar. Eingerahmt von geschnitzten Bögen knieten sechs Priester und Priesterinnen vor der Statue Lashimas, deren Antlitz wegen der Zeremonie unverhüllt war. Die Morgendämmerung fiel durch spitzbögige Fenster hoch oben in der Kuppel und griff mit Fingern aus blassen Strahlen in das Innere des dunklen Tempels. Es war wie eine Liebkosung, als die aufgehende Sonne die Göttin berührte und das juwelenähnliche Funkeln der für die Zeremonie notwendigen Kerzen um sie herum milderte. Wie freundlich die Lady in der Morgenröte aussieht, dachte Mara. Die Göttin der Weisheit blickte mit einem sanften Lächeln auf den feingeschnittenen Lippen herab, als würde alles, was unter ihrer Fürsorge stand, geliebt und beschützt werden und inneren Frieden finden. Mara betete inbrünstig, daß es wahr sein möge. Nur ein einziger Priester kniete nicht; es war derjenige, der jetzt wieder den Gong schlug. Sonnenstrahlen trafen auf das Metall, eine Explosion von goldenem Licht vor dem dunklen Vorhang, der den Eingang zum inneren Tempel verbarg. Dann, als das blendende Funkeln wieder verschwunden war, ertönte der Gong ein weiteres Mal.
    Noch fünfzehnmal würde er erklingen. Mara biß sich auf die Lippe, sie war sicher, daß die Göttin eine kurze Verfehlung verzeihen würde. Ihre Gedanken blitzten jäh auf wie das Licht in einem zerbrochenen Knstallstück, tanzten mal hierhin, mal dorthin, niemals länger an einem Ort verweilend. Ich eigne mich nicht gut für die Schwesternschaft, bekannte Mara innerlich und starrte an der Statue empor. Bitte, habe Geduld mit mir, Herrin des Inneren Lichts. Wieder warf sie einen Blick auf ihre Kameradin; Ura verhielt sich still und ruhig, ihre Augen waren geschlossen. Mara zwang sich, ihr Verhalten nachzuahmen, auch wenn sie die entsprechende innere Ruhe nicht finden konnte. Wieder erklang der Gong.
    Mara suchte den verborgenen Mittelpunkt ihres inneren Seins, das Wallum, und bemühte sich, ihre Gedanken zur Ruhe kommen zu lassen. Es gelang ihr einige Minuten. Dann riß ein erneuter Gongschlag sie abrupt in die Gegenwart zurück. Mara verlagerte ein wenig ihr Gewicht, unterdrückte die aufkommende Gereiztheit, als sie versuchte, den Schmerz in ihren Armen etwas zu lindern. Sie ignorierte das Bedürfnis, tief aufzuseufzen. Die innere Ruhe, die sie während ihrer Ausbildungszeit zur Novizin bei den Schwestern erlernt hatte, entglitt ihr wieder, obwohl sie bereits sechs Monate am Ordensleben teilgenommen hatte, bevor sie der Prüfung durch die Priester des Hohen Tempels in der Heiligen Stadt für würdig erachtet worden war.
    Wieder wurde der Gong geschlagen, und der Klang erinnerte mit seiner Kraft an das Horn, das den Kriegern der Acoma das Zeichen gegeben hatte, sich in Kampfformation aufzustellen. Wie kühn sie in ihren grünlackierten Rüstungen ausgesehen hatten, damals, als sie mit den Truppen des Kriegsherrn in die Schlacht gezogen waren – besonders die Offiziere mit den stattlichen Federbüschen. Mara war besorgt über die Entwicklung des Krieges in der barbarischen Welt, wo ihr Vater und ihr Bruder kämpften. Beinahe sämtliche Streitkräfte der Familie waren dort gebunden. Der Clan war in seiner Loyalität im Flohen Rat gespalten, und da keine Familie eindeutig dominierte, trugen die Acoma die Last blutiger Politik. Die Familien des Hadama-Clans waren nur dem Namen nach vereinigt, und ein Verrat der Acoma durch einen entfernten Cousin, der nach der Gunst der Minwanabi trachtete, war nicht völlig ausgeschlossen. Hätte Mara eine Stimme im Rat ihres Vaters besessen, sie hätte auf Trennung von der Kriegspartei gedrängt, möglicherweise sogar auf eine Allianz mit der Partei des Blauen Rades, die vortäuschte, nur am Handel Interesse zu haben, während sie in aller Stille daran arbeitete, die Macht des Kriegsherrn einzuschränken …
    Mara runzelte die Stirn. Wieder waren ihre Gedanken zu weltlichen Sorgen abgeschweift. Sie entschuldigte sich bei der Göttin dafür, dann drängte sie die Gedanken an die Welt, die sie hinter sich lassen würde, zurück.
    Mara schaute sich verstohlen um, als der Gong erneut ertönte. Das steinerne Antlitz der Göttin schien jetzt einen leisen Tadel zu zeigen; Tugend begann in jedem einzelnen Menschen, erinnerte sie sich. Hilfe würde nur denen widerfahren, die wirklich nach Erleuchtung suchten. Mara senkte die Augen.
    Der Gong hallte durch den Tempel, und ein anderes
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