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Ferne Tochter

Ferne Tochter

Titel: Ferne Tochter
Autoren: Renate Ahrens
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ihr, was geschehen ist und lausche ihrem Singsang.
    Francesco und ich beginnen, einander wieder zu vertrauen. Wir finden in unseren alten Rhythmus zurück, und doch ist vieles anders. Wir sprechen über Tessa. Wünscht sie keinen weiteren Kontakt mit mir? Reicht ihr das, was sie erfahren hat? Ist für sie das Thema damit erledigt?
    Selina hört sich meine Schilderung des Wochenendes an und meint, dass ich Geduld haben müsse. Für eine Zwanzigjährige wie Tessa drehe sich das Leben um ganz andere Dinge. In dem Alter gehe es vor allem um die Ablösung von den Eltern, um zunehmende Unabhängigkeit. Nach dem, was ich von ihrem Adoptivvater berichtet hätte, scheine er sich genau richtig zu verhalten. Letztlich sei es ein gutes Zeichen, wenn Tessa sich durch das Auftauchen ihrer leiblichen Mutter nicht aus dem Konzept bringen lasse.
    Francesco und ich überraschen Vincenzo mit einem Besuch. Glücklich überreicht er mir den Surrealistischen Engel und wünscht mir Zuversicht.
    Ich nähere mich dem Ende der Arbeit am Fresko. Es wird mir fehlen.
    Demnächst werde ich ein erstes Foto machen, vom Engel und seinem beschädigten Daumen.
    Mutter teile ich mit, dass ich einen Flug für den 25 . November gebucht habe. Sie summt.
    Vorher fahren Francesco und ich für eine Woche nach Sardinien. Wir gehen jeden Tag schwimmen, das Meer ist wärmer als die Luft.
    Von Tessa höre ich nichts.

[home]
    44.
    I ch sitze im Flugzeug und betrachte meine Fotos von der Verkündigung. Es sind über hundert. Auf den 15 -mal- 20 er- Abzügen wird Mutter alles gut erkennen können. Ich habe jedes Detail fotografiert, der Strahl zwischen dem Schnabel der Taube und Marias Ohr leuchtet.
    In Hamburg scheint die Sonne. Ich sehe in der Ferne ein silbriges Band. Die Elbe.
    Beim Verlassen der Maschine schalte ich mein telefonino ein. Francesco hat mir eine SMS geschickt.
Ich vermisse dich. Kuss, dein F.
    Ich dich auch, deine J.,
schreibe ich zurück.
    Außerdem habe ich zwei Nachrichten auf meiner Mailbox. Hat Tessa versucht, mich zu erreichen? Sie weiß nicht, dass ich heute nach Hamburg komme.
    Nein. Frau Grundmann bittet mich um Rückruf. So schnell wie möglich.
    Meine Finger zittern. Ich drücke zweimal auf eine falsche Taste.
    Ihre Nummer ist besetzt. Ich laufe durch den schlauchförmigen Gang. Hat Mutter plötzlich wieder Fieber bekommen? Wie lange war mein telefonino ausgestellt? Knapp vier Stunden.
    Ich versuche es erneut. Jetzt ist die Leitung frei. Es klingelt einmal, zweimal, dreimal.
    »Marlies Grundmann.«
    »Hier ist Judith Velotti. Ich bin gerade in Hamburg gelandet.«
    »Frau Velotti, ich muss Ihnen eine traurige Mitteilung machen.«
    Ich bleibe stehen. Bitte nicht.
    »Ihre Mutter ist heute verstorben.«
    »Aber wie kann das … Sie war doch …« Meine Stimme versagt.
    »Tanja Schmidt hat sie vor vier Stunden tot in ihrem Rollstuhl gefunden. Der Arzt geht davon aus, dass sie einen weiteren massiven Schlaganfall hatte.«
    »War sie sofort tot?«
    »Sie ist vermutlich sehr schnell bewusstlos geworden und hat nicht gelitten.«
    Ich schlucke.
    »Tanja Schmidt war die Letzte, die sie lebend gesehen hat. Das war nach dem Frühstück. Es ging ihr gut. Sie hat sich von ihr fein machen lassen und freute sich so auf Ihren Besuch.«
    »Ich beeile mich …«
     
    Ich muss mich hinsetzen, suche nach einem freien Platz zwischen Passagieren, die gleich nach Mallorca aufbrechen werden. Ich rufe Francesco an.
    »Hallo?«
    »Meine Mutter ist tot.«
    »Was?«
    »Ein weiterer Schlaganfall … Ich habe es eben erfahren. Sie haben sie vor vier Stunden gefunden.«
    »Ich komme.«
    »Heute geht kein Direktflug mehr nach Hamburg.«
    »Ich kann über Frankfurt oder München fliegen. Irgendwie werde ich das schon schaffen.«
    »Danke …«
    »Soll ich dir etwas mitbringen?«
    »Wie meinst du das?«
    »Schwarze Kleidung, Schuhe …«
    »Ja, natürlich … daran habe ich nicht gedacht.«
    »Ich melde mich, sobald ich weiß, wann ich ankommen werde.«
    »Francesco, ich … habe noch nie einen Toten gesehen.«
    »Ich nur einmal … meine Mutter … Es ist ein schwerer Moment … Wenn du es nicht kannst, dann lass es. Niemand zwingt dich dazu.«

[home]
    45.
    F rau Grundmann empfängt mich unten im Flur. »Mein herzliches Beileid.«
    »Ich danke Ihnen.«
    »Möchten Sie Ihre Mutter sehen?«
    »Ja …«
    »Ihre Gesichtszüge sind noch verzerrter als vorher. Vielleicht wollen Sie sie lieber so in Erinnerung behalten, wie sie aussah, als Sie sie das letzte Mal
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