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Ferne Tochter

Ferne Tochter

Titel: Ferne Tochter
Autoren: Renate Ahrens
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besucht haben.«
    »Nein … es ist wichtig für mich …«
    Wir nehmen den Aufzug. Ich denke an meinen ersten Besuch Anfang September, an die Warnungen von Frau Grundmann. Ich solle beim Anblick meiner Mutter nicht erschrecken.
    Wie viele Wochen sind seitdem vergangen? Es fällt mir schwer zu rechnen. Welchen Tag haben wir heute? Ich habe plötzlich Kopfschmerzen. Warum muss ich das ausrechnen? Mutter ist tot. Ich fange noch einmal von vorne an. Zwölf Wochen ist es her. Zwölf Wochen und ein Tag.
    »Möchten Sie mit ihr allein sein?«, fragt Frau Grundmann.
    »… Ja.«
    Sie klopft an. Warum?
    Tanja Schmidt öffnet uns die Tür. Sie ist blass. Hat sie geweint? Sie greift nach meiner Hand, umschließt sie mit ihren Händen. Sie sind warm.
    »Es tut mir so leid. Ich habe Ihre Mutter sehr gemocht.«
    »Ich weiß … Es hatte etwas Tröstliches … für sie … und für mich.«
    »Ich habe sie schon gewaschen und angekleidet … Ich hoffe, das war in Ordnung?«
    Ich nicke.
    »Bitte geben Sie mir Bescheid, wenn ich Ihnen irgendwie zur Seite stehen kann.«
    »Ja, ich … werde vieles zu erledigen haben …«
    »Ihre Mutter hatte eine grüne Mappe in ihrem Nachttisch, mit verschiedenen Zetteln, die sie in den letzten zwei, drei Monaten geschrieben hat. Die habe ich Ihnen rausgelegt.«
    »Danke.«
    »Und jetzt lassen wir Sie allein«, sagt Frau Grundmann und nickt mir zu.
    Ich betrete das Zimmer, schließe die Tür hinter mir. Es ist kühl.
    Mutter liegt im Bett, den Kopf leicht erhöht, ihr Gesicht ist so schief, ich erkenne sie kaum. Das linke Augenlid ist geschlossen, das rechte wird durch einen feuchten Tupfer verdeckt. Eine kleine Rolle aus einem Handtuch oder einem Waschlappen stützt ihr Kinn, vermutlich um das Öffnen des Mundes zu vermeiden. Ihre Hände sind über der Brust verschränkt, die linke scheint die rechte zu halten. Ihre Haare sind hochgesteckt, sie trägt ihre hellblaue Bluse und die Goldkette mit der kleinen Uhr.
    Auf dem Tisch steht eine brennende Kerze. Daneben liegt eine Karte mit einer weißen Lilie. Ein stiller Gruß vom Pflegeheim.
    Ich setze mich in den Sessel, betrachte das fremde Gesicht und die vertrauten Hände. Ich stelle mir vor, wie es wäre, wenn ich Mutter in den letzten zwölf Wochen nicht wiedergesehen hätte. Wenn ich hier säße und es nur die Erinnerung an den Bruch in unserem Leben gäbe. Ich wäre vermutlich nicht hergefahren, hätte es nicht ertragen.
    Auf ihrem Nachttisch liegen meine Postkarten. Hat sie sie heute noch einmal angesehen? Warum habe ich ihr nicht die Fotos geschickt?
    NACH MEINEM TOD
steht in zittrigen Buchstaben auf der grünen Mappe.
    Ich denke an die Zeugnismappe. Wenn Mutter damals nicht den Zettel geschrieben hätte, würde ich vielleicht erst jetzt anfangen, systematisch im Haus nach einem Hinweis auf meine Tochter zu suchen.
    Ich öffne die Mappe, blicke auf ein schwarzes Adressbuch und einen prallgefüllten Umschlag mit der Aufschrift
FÜR MEINE BEERDIGUNG
.
Ich reiße ihn auf, er enthält lauter Hunderteuroscheine, achtzig insgesamt.
    In einem weiteren Umschlag finde ich eine Zettelsammlung und einen Brief an mich.
     
    LIEBE JUDITH ,
    WENN DU DIESE MAPPE IN DEN HÄNDEN HÄLTST , LEBE ICH NICHT MEHR .
    ICH DANKE DIR , DASS DU MIR MEIN VERSAGEN VERZIEHEN HAST . DIE ZEIT SEIT DEM 1 .  SEPTEMBER 2011 HAT MIR SEHR VIEL BEDEUTET . ICH WÜNSCHE DIR GLÜCK UND ERFÜLLUNG IN DEINEM LEBEN .
    DEINE MUTTER
    HAMBURG , DEN 23 .  NOVEMBER 2011
     
    Den Brief hat sie vor zwei Tagen geschrieben. Hat sie geahnt, dass sie nicht mehr lange leben würde?
    ANSCHRIFTEN UND TELEFONNUMMERN SIEHE ADRESSBUCH
lese ich auf einem Zettel,
BITTE ERDBESTATTUNG VERANLASSEN
auf einem anderen.
    Es folgen Zettel mit Hinweisen auf das Bestattungsunternehmen, den Sarg
(
EICHE
),
den Blumenschmuck
(
WEISSE ROSEN ODER LILIEN
,
AUF KEINEN FALL CHRYSANTHEMEN
),
den Ohlsdorfer Friedhof, die Grabstätte der Familie Wolf
(
VERLÄNGERUNG DER NUTZUNGSZEIT VORGENOMMEN
),
den Pfarrer Hubert Böhme
(
HAT ZUGESAGT
,
DEN TRAUERGOTTESDIENST ABZUHALTEN
),
den Organisten Wolfgang Schneider
(
CHORAL SIEHE UNTEN
),
das Café Rosengarten
(
NÄHE OHLSDORFER FRIEDHOF
),
in dem sich die Trauergemeinde nach der Beerdigung versammeln soll
(
SCHNITTCHEN
,
BUTTERKUCHEN
,
TEE
,
KAFFEE
,
WASSER
).
    Eine lange Liste enthält die Namen derer, die eine Todesanzeige
(
MIT KREUZ
,
ANSONSTEN SCHLICHT
)
bekommen sollen. An erster Stelle steht Antonia Bremer. Die meisten anderen sind mir unbekannt.
    BITTE ANZEIGEN
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