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Buddhas kleiner Finger

Buddhas kleiner Finger

Titel: Buddhas kleiner Finger
Autoren: Viktor Pelewin
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Vielerlei Gründe legen es nahe, den wahren Urheber des vorliegenden, Anfang der zwanziger Jahre in einem Kloster der Inneren Mongolei entstandenen Manuskripts zu verschweigen; so erscheint es hier unter dem Namen des Redakteurs, der es für den Druck vorbereitet hat. Getilgt sind gegenüber dem Original die Beschreibungen einiger magischer Prozeduren, ebenso ein beträchtliches Maß Reminiszenzen des Erzählers an sein Leben im vorrevolutionären Petersburg (seine sog. »Petersburger Periode«). Auf die vom Autor gewählte Genrebezeichnung – »Freier Gedankenflug« – wurde verzichtet, da sie allem Anschein nach als Scherz aufzufassen ist.
    Die Geschichte, wie sie der Autor erzählt, hat als psychologisches Tagebuch ihren Reiz und ihre unbestreitbaren künstlerischen Qualitäten; mehr will sie überhaupt nicht sein, obschon sich der Autor hie und da der Erörterung von Gegenständen befleißigt, die unserer Ansicht nach keiner Erörterung bedürfen. Eine gewisse Verkrampftheit im Stil läßt sich damit erklären, daß der Autor kein »literarisches Werk« zu schaffen beabsichtigte; vielmehr wollte er mit seinem Text mechanische Bewußtseinszyklen fixieren und sich auf diesem Wege dauerhaft vom sogenannten Innenleben befreien. An zwei oder drei Stellen zieht es der Autor vor, direkt auf den Verstand des Lesers zu setzen, anstatt ihm eines dieser aus Worten zusammengebastelten Phantome vorzugaukeln; leider ist die Aufgabe gar zu simpel, als daß derlei Versuche von Erfolg gekrönt sein könnten. Literaturexperten werden vorliegendes Werk vermutlich wieder nur als ein neues Produkt des in den letzten Jahren in Mode gekommenen kritischen Solipsismus sehen; doch liegt der Wert des Dokuments recht eigentlich darin, daß hier erstmals in der Weltkultur der Versuch unternommen wurde, den alten mongolischen Mythos der Ewigen Nimmerwiederkehr mit künstlerischen Mitteln zu gestalten.
    Einige Worte zum Haupthelden des Buches sollen folgen. Besagter Redakteur trug mir vor einiger Zeit ein Tanka des Dichters Puschkin vor:
    Doch an das Blutjahr,
Die vielen kühnen Opfer,
Gute und schöne,
Erinnert kein Gesang uns
In weben, süßen Tönen …
    In mongolischer Übersetzung klingt die Wendung »kühnes Opfer« seltsam. Dieses Thema zu vertiefen ist hier aber nicht der Ort; lassen wir es bei dem Hinweis bewenden, daß die letzten beiden Tankaverse sich ohne Abstriche auch auf die Geschichte von Wassili Tschapajew beziehen lassen.
    Was weiß man heute von diesem Mann? Soweit wir zu urteilen vermögen, hat die Figur im Gedächtnis der Nation rein mythologische Züge angenommen, Tschapajew spielt in der russischen Folklore die allgegenwärtige Rolle eines Nasreddin Hodscha. Um ihn ranken sich zahllose Witze und Anekdoten, allesamt fußend auf einem bekannten Kinofilm der dreißiger Jahre. Darin wird Tschapajew als roter Reiterkommandeur im Kampf gegen die Weißen dargestellt, er führt lange, innige Gespräche mit seinem Adjutanten Petka sowie der Maschinengewehrschützin Anka und ertrinkt am Ende während einer weißgardistischen Attacke in den Fluten des Ural-Flusses. Mit dem Leben des wirklichen Tschapajew hat dies alles nicht das geringste zu tun; zumindest sind die wahren Tatsachen durch Mutmaßungen und Spekulationen bis zur Unkenntlichkeit entstellt.
    Der ganzen Verwirrung zugrunde liegt ein Buch mit dem Titel »Tschapajew«, welches zuerst 1923 in einem Pariser Verlag auf französisch erschien und – man beachte! – in Rußland unverzüglich nachgedruckt wurde. Wir ersparen es uns an dieser Stelle, den Nachweis seiner Nichtauthentizität zu führen. Wer will, findet darin mühelos Ungereimtheiten und Widersprüche en masse, und letztlich ist es der Geist des Buches selbst, der bezeugt, daß der Autor bzw. die Autoren keine Ahnung von den Dingen hatten, die sie so fleißig zu beschreiben suchen. Angemerkt sei immerhin, daß Herr Furmanow dem historischen Tschapajew begegnet ist, und zwar mindestens zweimal, besagtes Buch jedoch aus Gründen, die im weiteren ersichtlich werden, gar nicht geschrieben haben kann. Um so verwunderlicher, daß der ihm zugeschriebene Text von vielen bis heute als annähernd dokumentarisch angesehen wird.
    Hinter dieser nun schon mehr als ein halbes Jahrhundert bestehenden Fälschung lassen sich unschwer die rührigen Aktivitäten großzügig finanzierter Kräfte ausmachen, die daran interessiert sind, daß die Wahrheit über Tschapajew den Völkern Eurasiens so lange wie möglich verborgen bleibt.
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