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Fandorin

Fandorin

Titel: Fandorin
Autoren: Boris Akunin
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Absicht, sich zu erschießen. Kukin will ein metallisches Klicken gehört haben, jedoch keinen Schuß. Nach besagtem Klicken sei der Student auf das Trottoir hinuntergesprungen und schnell in Richtung Jausa-Straße gelaufen. Weitere Augenzeugen waren nicht zu ermitteln. Kukin befürwortet die Einrichtung eines polizeilichen Brückenpostens, da letztes Jahr an selbiger Stelle ein leichtes Mädchen ins Wasser gegangen sei, was sich ungünstig auf die Handelstätigkeit ausgewirkt habe.«
    »Merkwürdig«, sagte Fandorin und zuckte mit den Achseln. »Was ist das für ein Ritual? Es wird doch nicht schon einen Geheimbund der Selbstmörder geben?«
    »Von wegen Geheimbund«, versetzte Gruschin gedehnt und fuhr dann, allmählich in Fahrt kommend, fort: »Nein, Verehrtester, das ist alles viel einfacher. Jetzt wird mir übrigens auch die Sache mit der Revolvertrommel klar, die uns so spanisch vorkam! Es ist immer ein und derselbe. Ein Schabernack unseres lieben Studenten Kokorin. Schauen Sie her!« Gruschin war aufgestanden und flink an den Moskauer Stadtplan getreten, der neben der Tür an der Wand hing. »Hier ist die Kleine Brücke über die Jausa. Von da ist er die Jausa-Straße entlang, hat sich noch ein Stündchen irgendworumgedrückt und dann wieder in der Podkolokolny sehen lassen, bei der Feuersozietät. Dort hat er der guten Frau Spizyna einen Schreck eingejagt und sich anschließend in Richtung Kreml davongemacht. Gegen drei ist er im Alexandergarten angelangt, wo der Stadtrundgang auf die uns bekannte Art sein Ende nahm.«
    »Aber wozu? Was hat das alles zu bedeuten?« fragte Fandorin, während seine Augen noch an dem Plan klebten.
    »Was es zu bedeuten hat, darüber habe ich mir keine Gedanken zu machen. Aber wie die Sache gelaufen ist, kann ich mir vorstellen. Unser aristokratisches Studentlein hatte beschlossen, der Welt Adieu zu sagen. Aber vor dem Tod brauchte er noch einen kleinen Nervenkitzel. Irgendwo hab ich gelesen, daß dieses Spielchen amerikanisches Roulette genannt wird. Weil die Amerikaner es sich ausgedacht haben, in ihren Goldgruben. Du lädst die Trommel mit nur einer Patrone, läßt sie rotieren und drückst ab. Wenn du Glück hast, sprengst du die Bank, wenn nicht – pardon und adieu. So hat unser Studentlein einen Rundgang unternommen und dabei sein Schicksal herausgefordert. Gut möglich, daß er öfter als dreimal abgedrückt hat, nicht jeder Augenzeuge ruft gleich die Polizei. Die Gutsfrau mit ihrem Abonnement auf Seelenrettung und dieser Kukin mit seinen privatimen Interessen waren nur wachsamer als andere – wie viele Versuche Kokorin im ganzen unternommen hat, weiß der liebe Gott. Vielleicht hat er auch eine Abmachung mit sich selber getroffen, so und so viele Runden spiele ich mit dem Tod, überlebe ich, dann soll es so sein. Aber das sind schon meine ganz persönlichen Phantasien. Jedenfalls war die Szene im Alexandergarten kein fatales Mißgeschick. Fortuna hat den jungen Mann zur dritten Mittagsstunde einfach mal im Stich gelassen.«
    »Xaveri Feofilaktowitsch, Sie sind ein großes analytisches Talent!« Fandorin war aufrichtig begeistert. »Ich sehe geradezu vor mir, wie alles war.«
    Das Lob schmeichelte Gruschin, auch wenn es von einem Milchbart kam.
    »Nun ja. Man kann auch von alten Narren noch etwas mitkriegen«, versetzte er in überlegenem Tonfall. »Sie hätten mal wie ich das kriminalistische Handwerk erlernen sollen, nicht in so hochkulturellen Zeiten wie den heutigen, nein, unter Nikolaus I. Damals kannte man das Wort Kriminalpolizei noch gar nicht, und es gab in Moskau noch keine Behörde wie diese, nicht mal eine eigene Ermittlungsabteilung. Man hat einfach alles gemacht: heute einen Mörder gesucht, morgen zur Abschreckung auf dem Jahrmarkt herumgestanden und übermorgen die Kneipentour, ausweislose Existenzen aufspüren. Das schult die Beobachtungsgabe, die Menschenkenntnis, na, und man kriegt ein dickes Fell, ohne das man im Polizeiwesen nicht weit kommt!« endete der Kommissar mit einem Seitenhieb auf seinen Schriftführer und merkte erst jetzt, daß der ihm gar nicht zuzuhören schien und statt dessen seinen eignen Gedanken nachhing, die sichtlich nicht sonniger Natur waren.
    »Was haben Sie denn noch, spucken Sie’s aus.«
    »Ja, eines verstehe ich immer noch nicht …« Nervös zuckten Fandorins Brauen, zwei schöne Halbmonde. »Dieser Kukin gibt an, ein Student hätte auf der Brücke gestanden.«
    »Natürlich, unser Student, wer sonst?«
    »Und woher weiß
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