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Fandorin

Fandorin

Titel: Fandorin
Autoren: Boris Akunin
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Fächer in der Hand, ein gravitätischer Herr mit Annenkreuz um den Hals, zwei Pensionatsschülerinnen in gleichen braunen Kleidchen und Pelerinen –, standen wie angewurzelt, und selbst draußen vor dem Zaun, auf dem Trottoir, war ein Student aufmerksam geworden. Mit einem Wort, man durfte erwarten, daß der skandalösen Szene in kürzester Zeit ein Ende bereitet würde.
    Das Weitere geschah so schnell, daß niemand einzuschreiten vermochte.
    »Nun denn!« brüllte der betrunkene (oder auch übergeschnappte) junge Mann, streckte die Hand mit dem Revolver merkwürdig hoch über den Kopf und ließ die Trommel kreisen, dann setzte er sich die Mündung an die Schläfe.
    »Sie Clown! Sie Hanswurst!« zischte die tapfere Deutsche.
    Das Gesicht des jungen Mannes, ohnehin blaß, wurde aschfahl bis grünlich, er biß sich auf die Unterlippe und kniff die Augen zusammen. Das Fräulein schloß sicherheitshalber die ihren.
    Recht getan! Ein grauenhafter Anblick blieb ihr mithin erspart. In dem Moment, da der Schuß fiel, wurde der Kopf des Selbstmörders jäh zur Seite gerissen, und aus dem Einschußloch knapp oberhalb des linken Ohrs spritzte eine dünne weißlich-rote Fontäne.
    Was folgte, ist mit Worten kaum zu beschreiben. Zunächst ließ die Deutsche einen empörten Blick schweifen, als wollte sie sich der Zeugenschaft aller Umstehenden in dieser unsäglichen Szene versichern, und fing sodann durchdringend zu kreischen an, womit sie dem schon einige Sekunden währenden Quietschen der Schülerinnen und der beleibten Dame eine neue Stimmlage hinzufügte. Das Fräulein hing besinnungslos auf der Bank – ehe sie in Ohnmacht gefallen war, hatte sie es immerhin noch fertiggebracht, für einen Augenblick die Augen zu öffnen. Von allen Seiten kamen Leute gerannt, wohingegen der Student hinter dem Zaun, eine empfindsame Natur, sich beeilte, die Straße zu überqueren und in Richtung Mochowaja davonzukommen.
     
    Xaveri Feofilaktowitsch Gruschin, leitender Ermittlungsbeamter des Kriminalamts beim Moskauer Oberpolizeipräsidenten,atmete geräuschvoll auf, als er den Rapport über wichtige Verbrechensfälle vom Vortag nach links auf den Stapel »Inspiziert« ablegte. In keinem der vierundzwanzig Polizeireviere dieser sechshunderttausend Seelen zählenden Stadt war im Laufe des dreizehnten Mai etwas vorgefallen, was die Einschaltung der obersten kriminalpolizeilichen Behörde erfordert hätte. Ein Totschlag infolge Rauferei zwischen betrunkenen Fabrikarbeitern (der betreffende Delinquent war noch am Tatort festgenommen worden), zwei Raubüberfälle auf Fuhrleute (damit sollten die Reviere gefälligst selbst zu Rande kommen) und das Verschwinden von siebentausendachthundertdreiundfünzig Rubeln, siebenundvierzig Kopeken aus der Kasse der Russisch-Asiatischen Bank (eindeutig ein Fall für Anton Semjonowitsch, Abteilung Kommerzialdelikte) – alles nicht der Rede wert. Gottlob verschonte man die Behörde inzwischen weitgehend mit Taschendiebstählen, erhängten Stubenmädchen und ausgesetzten Wickelkindern – dafür gab es neuerdings den »Polizeilichen Sammelrapport über besondere städtische Vorkommnisse«, der allnachmittäglich von den Revieren abgefordert wurde.
    Xaveri Gruschin gähnte herzhaft und sah über sein Pincinez hinweg auf seinen Schriftführer, den Beamten im vierzehnten Rang Erast Petrowitsch Fandorin, der den fälligen Wochenbericht an den Herrn Oberpolizeipräsidenten nunmehr zum dritten Mal abschrieb. Macht nichts, dachte Gruschin, soll er sich von der Pike auf an die nötige Akkuratesse gewöhnen, später einmal wird er es uns danken. Fehlte noch, daß der nach der neuesten Mode verfuhr und dem Herrn Vorgesetzten etwas mit der Stahlfeder hinkleckste. Nein, mein Lieber, so viel Zeit muß sein: hübsch ordentlich, bis in die letzten Kringel und Schnörkel hinein, mitder Gänsefeder geschrieben, in alter, ziemlicher Manier. Seine Exzellenz waren noch unter Zar Nikolaus I. groß geworden und hielten etwas von amtlicher Ordnung und Disziplin.
    Xaveri Gruschin wünschte seinem neubestallten jungen Schriftführer gewiß nichts Böses, im Gegenteil, er empfand ein väterliches Mitgefühl. Denn das mußte man sagen: Das Schicksal war bislang recht hart mit ihm umgesprungen. Mit neunzehn war er Vollwaise geworden – die Mutter kannte er ohnehin nicht, und kürzlich hatte nun der Vater, ein Brausekopf, das Zeitliche gesegnet, nachdem sein Vermögen in windigen Projekten aufgegangen war: Im Eisenbahnfieber war er zu
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