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Fandorin

Fandorin

Titel: Fandorin
Autoren: Boris Akunin
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Welch Ausmaß an Unglauben und Nihilismus unter der goldenen Jugend, da sie noch den eigenen Tod zur Buffonade inszeniert! Wie kann man von ihnen, unsere Brutussen, die so wenig vom eigenen Leben halten, erwarten, daß ihnen das Leben
anderer, anständiger Leute einen Heller wert ist? Hierauf passen im übrigen die Worte unseres verehrten Fjodor Michailowitsch Dostojewski in der gerade erschienenen Mainummer seines »Tagebuch eines Schriftstellers«, wo es heißt: »Ihr Lieben, Guten, Braven (doch, doch, das seid Ihr!), wohin wollt Ihr, was zieht es Euch in dieses Grab ohne Licht und ohne Luft? Seht, am Himmel strahlt die Frühlingssonne, die Knospen platzen an den Bäumen, Ihr aber seid des Lebens müd, das Ihr noch gar nicht gelebt.«
     
    Xaveri Gruschin schniefte gerührt und warf dann einen prüfenden Blick auf seinen jungen Gehilfen – der hatte die Anwandlung hoffentlich nicht bemerkt! –, um gleich darauf deutlich nüchterner fortzufahren: »Na und so weiter, und so weiter. Mit den Zeiten hat das übrigens gar nichts zu tun. Als ob daran etwas Verwunderliches wäre! Wenn’s dem Esel zu wohl wird, geht er aufs Eis, sagt man von solchen seit alters her. Ein Millionenerbe! Wer das wohl sein mag? Und die Herren Reviervorsteher, diese Schelme, schreiben jeden Kinkerlitz in ihre Rapporte, nur das hier nicht. Da dürfen wir nun wieder auf die Sammelberichte warten! Obwohl, na ja, eigentlich wird’s an dem Fall nichts zu deuteln geben: Selbstmord vor Zeugen … Man wüßte trotzdem gern Genaueres. Alexandergarten, das ist Stadtmitte, zwotes Revier. Wissen Sie was, Erast Petrowitsch, seien Sie doch so nett und laufen Sie schnell mal zu denen rüber in die Mochowaja. Schützen Sie eine allgemeine Inspektion vor oder so etwas. Bringen Sie in Erfahrung, wer dieser N. war. Und vor allem, mein Lieber, kopieren Sie den Abschiedsbrief, damit ich ihn meiner Jewdokija zum Abendbrot zeigen kann, sie mag derlei Herzensergüsse. Und bitte nicht säumen, seien Sie rasch zurück!«
    Die letzten Worte waren schon in den Rücken des Kollegienregistrators gesprochen, der es so eilig hatte, seinen trostlosen wachstuchbespannten Schreibtisch zu verlassen, daß er um ein Haar die Dienstmütze vergessen hätte.
     
    Auf besagtem Revier wurde der junge Kriminalbeamte sogleich zum Vorsteher geführt. Der jedoch, als er sah, daß keine Person von Rang erschienen war, sparte sich jegliches Palaver und rief seinen Gehilfen.
    »Bitte Iwan Prokofjewitsch zu folgen!« sagte er liebenswürdig zu dem Besucher (der, obzwar ein Grünschnabel, immerhin von der vorgesetzten Behörde kam). »Er wird Ihnen alles Nötige vorweisen und darlegen. Ist gestern extra noch in der Wohnung des Toten gewesen. Und Xaveri Feofilaktowitsch, bitteschön, meine ergebensten!«
    Fandorin wurde an einem hohen Schreibpult plaziert und alsbald mit einem dicken Aktenordner versorgt.
     
    ERMITTLUNGSAKTE
    betr. Selbsttötung des Ehrenbürgers von Geburt
    Pjotr Alexandrowitsch KOKORIN,
    23 Jahre, Student der Juristischen Fakultät der Moskauer
    Kaiserlichen Universität.
    Eröffnet am 13. Mai 1876. Geschlossen am … … 18…
     
    Fandorin knüpfte mit vor Spannung zitternden Fingern die Schnüre des Ordners auf.
    »Alexander Artamonowitsch Kokorins Einziger!« erläuterte Iwan Prokofjewitsch, ein schlaksiger, eifernder Adlatus mit knittrigem Gesicht. »Der Alte war steinreich. Fabrikant. Ist vor drei Jahren verschieden. Und hat alles dem Sohn vermacht. Ein sorgloses Leben hätte das Studentlein führen können. Was fehlt solchen denn noch?«
    Fandorin nickte, weil er nicht wußte, was er darauf erwidern sollte, und vertiefte sich in die Lektüre der Zeugenaussagen. Es gab ein gutes Dutzend Protokolle, das umfangreichste enthielt die Aussagen eines Fräulein Elisabeth (17), Tochter des Wirklichen Geheimrats Ewert-Kolokolzew, und ihrer Gouvernante Emma Pfuhl (48), mit denen der Selbstmörder unmittelbar vor dem Schuß einen Wortwechsel hatte. Im übrigen erfuhr Fandorin aus den Protokollen nur, was der Leser schon weiß – sämtliche Zeugen sagten mehr oder weniger dasselbe aus, wobei ihre Intuition augenscheinlich verschieden ausgeprägt war: Die einen behaupteten, der Anblick des jungen Mannes habe in ihnen sofort eine böse Ahnung wachgerufen (»Wie ich in seine wahnsinnigen Augen blickte, da wurde mir das Herz kalt«, äußerte Frau Titularrätin Chochrjakowa, die im weiteren jedoch angab, den jungen Mann nur von hinten gesehen zu haben); andere Zeugen wiederum
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