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Öffne deine Seele (German Edition)

Öffne deine Seele (German Edition)

Titel: Öffne deine Seele (German Edition)
Autoren: Stephan M. Rother
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    Vorspiel – Sonntag, 23. Juni
    S ie sah nur seinen Umriss. Schwärze, aus dem Zwielicht unter den Bäumen geschnitten.
    Er stand beinahe reglos. Den Rücken gegen den Baumstamm gelehnt, führte er eine Zigarette an die unsichtbaren Lippen. Als er den Qualm einsog, entstand für Sekunden die Ahnung eines Lichtschimmers auf seinem Gesicht.
    Harte Züge.
    Männlich.
    Jene besondere Art von Brutalität, die sie brauchte .
    Er wusste, dass sie ihn beobachtete. Wusste, dass sie es wusste. Es war ein Spiel. Lucia hatte ihn schon ein oder zwei Mal hier gesehen, am Rande des Dahliengartens bei Anbruch der Dunkelheit, und es gab nur einen Grund, warum die Männer zu dieser Uhrzeit herkamen.
    Ein Spiel. Die Jagd: Jäger und Beute.
    Sie löste sich aus den Schatten des Gebüschs, die ihre Gestalt nur unvollkommen verborgen hatten. Gerade ausreichend, um ihm klar zu machen, dass er es war, dessen Augen sie auf ihren Körper lenken wollte.
    Ein Blick über die Schulter – nicht zu deutlich, nur nicht zu deutlich! Er rührte sich nicht. Doch es gehörte zum Spiel, dass er sich nicht rührte, jetzt noch nicht. Erst wenn sie ein Stück voraus war, würde er sich vom Baumstamm lösen und ihr wie zufällig folgen.
    Der Boden des Waldwegs unter ihren achteinhalb Zentimeter hohen Absätzen war uneben, doch Lucia bewegte sich geschickt wie die Beute der Nacht, die sie war. Wie lange hatte es gedauert, bis sie diesen sicheren Gang beherrscht hatte, den genau berechneten Schwung ihrer Hüften unter einer Ahnung von Kleid.
    Sie spürte die Blicke aus der Dunkelheit, jetzt nicht mehr nur die seinen, und sie genoss sie, lauschte auf das Rascheln zwischen den Zweigen, das kleine wilde Tiere verriet oder stumme Beobachter.
    Lucia würde sich nicht im Dunkeln halten. Nein, dazu genoss sie die Aufmerksamkeit zu sehr. Der Pfad ging steil abwärts, auf die offenen Rabatten zu, wo bei Tageslicht die braven Hamburger Bürger mit ihren Familien flanierten.
    In der Nacht veränderte sich der Dahliengarten.
    In der Nacht war er Lucias Bühne.
    Dünne Schleierwolken zogen am Junimond vorüber. Ein nahezu perfekter, verhalten schimmernder Kreis.
    Sie spürte das vertraute aufregende Prickeln, als sie sich durch eine Lücke im Gebüsch auf den Schotterweg schob, sich einen Moment lang am Muster der Beete orientierte und sich dann nach rechts wandte, zum Bassin.
    Jetzt erst sah sie noch einmal über ihre Schulter, und im selben Moment hörte sie das Knirschen seiner Schritte auf dem Schotter. Eine kantige Silhouette. Nein, kein Leder, wie sie in der Dunkelheit geglaubt hatte. Ein Hafenarbeiter? Ein Matrose? Sie hatte schon Seemänner gehabt, doch letztendlich waren sie alle gleich, und nichts konnte sie mehr zurückhalten, wenn das Spiel an diesen Punkt gelangt war. Ihre Erregung war zu groß in diesem Moment, wenn Lucia unter dem Mond ihre Bühne im Dahliengarten betrat.
    Das Bassin. Der Mond spiegelte sich glitzernd auf dem Wasser. Keine Brise, die der Juninacht Kühlung brachte.
    Und es würde noch wesentlich heißer werden.
    Das Bassin war von einer schmiedeeisernen Brüstung umgeben. Lucia beugte sich vor, ihre Finger umschlossen das kühle Metall, als sie sich in Position brachte.
    Die Schritte kamen näher, blieben stehen, direkt hinter ihr. Sie sah sich nicht um. Eine Ahnung seines Geruchs. Dunkel, erdig und doch …
    Ihre Nasenflügel zogen sich zusammen.
    Und doch  …
    Lucias Augen wurden zu schmalen Schlitzen.
    Weiter oben war Bewegung in der Luft. Der Mond leuchtete heller, als der dünne Schleier der Wolken sekundenlang beiseitegetrieben wurde.
    Lucia keuchte auf, stolperte zurück und der Fremde – der Hafenarbeiter, der Matrose – mit ihr.
    «He!» Ein tiefer Laut aus seiner Kehle, doch er hielt das Gleichgewicht und sah über ihre Schulter.
    Sah, was sie gesehen hatte, immer noch sah, auch jetzt, als sich der dünne, durchlässige Schleier von neuem über den Mond legte.
    Zu dünn, um das Bild zu vertreiben.
    Ihre Kehle war wie zugeschnürt. Zentimeterweise drehte sie sich um. Ihre Lippen zitterten, als sie zu ihm aufsah – er war größer, als sie es war, selbst mit ihren Pumps. Sie fand es aufregend, wenn sie groß waren, doch in diesem Moment war das unwichtig.
    «Wir …», flüsterte sie. «Wir müssen …»
    Er sah sie nicht an. Seine Augen hatten sich am Wasser des Bassins festgesogen und verdrehten sich wie in Zeitlupe nach oben, bevor er ohnmächtig umkippte.

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