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Fandorin

Fandorin

Titel: Fandorin
Autoren: Boris Akunin
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mit überraschender Gehässigkeit. »Da hat der liebe Kokorin ihnen eine Nase gedreht. Das ist die unfeine russische Art! Nochdazu reichlich unpatriotisch. Das mit den Schurken läßt sich nun auch verstehen.«
    Vor Ungeduld vergaß Fandorin jeden Anstand und Respekt, er riß dem Dienstälteren das Blatt aus der Hand und las:
     
    Testament
    Ich, Endesunterzeichneter Pjotr Alexandrowitsch Kokorin, verfüge bei vollem Verstand und voller Geistesgegenwart sowie im Beisein nachstehender Zeugen bezüglich des mir zu eigenen Vermögens das folgende:
    Meinen gesamten Nachlaß, dessen vollständiges Inventar sich in den Händen meines Vertrauten, Herrn Semjon Jefimowitsch Berenson, befindet, vererbe ich an Frau Baronin Margaret Aster, britische Staatsbürgerin, zur ausschließlichen Verwendung in Zwecken der Ausbildung und Erziehung von Waisenkindern. Es ist meine Überzeugung, daß Frau Aster mit dem Geld vernünftiger und ehrbarer umzugehen weiß als unsere wohltätige Generalität.
    Dieses mein Testament ist letztwillig und unwiderruflich, es besitzt volle juristische Gültigkeit und setzt meine frühere Verfügung außer Kraft.
    Zu Testamentsvollstreckern ernenne ich Herrn Semjon Jefimowitsch Berenson, Rechtsanwalt, und Herrn Nikolai Stepanowitsch Achtyrzew, Student der Moskauer Universität.
    Vorliegendes Testament besteht in zwei Exemplaren, von denen eines in meiner Hand und eines zur Verwahrung in der Kanzlei des Herrn Berenson verbleibt.
    Moskau, den 12. Mai 1876.
    Pjotr Kokorin

ZWEITES KAPITEL,
    in welchem viel und ausschließlich geredet wird
    »Alles, was recht ist, Xaveri Feofilaktowitsch, an der Sache ist etwas faul. Da steckt ein Geheimnis dahinter, das sage ich Ihnen!« wiederholte Fandorin hitzig, und in seinem Starrsinn gleich noch einmal: »Ein Geheimnis, jawohl! Urteilen Sie doch selbst: Schon die Art und Weise, wie er sich erschossen hat, ist absurd – zack und peng! – mit einer einzigen Patrone in der Trommel, so als wäre es gar nicht seine Absicht gewesen. Nur ein fatales Mißgeschick! Und der Ton des Abschiedsbriefs, das müssen Sie zugeben, ist mehr als kurios – wie nebenbei, in aller Eile geschrieben, dabei geht es doch darin um das heikelste aller Probleme. Eines, mit dem man nicht spaßt!« Fandorins Stimme bebte vor Mitgefühl. »Aber lassen Sie uns dazu später kommen, erst einmal zum Testament. Höchst verdächtig, oder etwa nicht?«
    »Was erscheint Ihnen denn daran so verdächtig, mein Bester?« schnurrte Gruschin, während er gelangweilt im »Polizeilichen Sammelrapport über besondere städtische Vorkommnisse« des Vortages blätterte. Diese durchaus zum Erkenntnisgewinn verfaßte Lektüre traf für gewöhnlich erst in der zweiten Tageshälfte ein, Dinge von Wichtigkeit kamen darin kaum vor – im wesentlichen ging es um Belangloses, kompletten Blödsinn, nur selten war etwas Interessantes darunter. Hier fand sich nun endlich die Mitteilung bezüglich des gestrigen Selbstmords im Alexandergarten, jedoch, wie vom erfahrenen Gruschin vorausgesehen, ohnealle Einzelheiten und natürlich ohne den Text des Abschiedsbriefes.
    »Das kann ich Ihnen sagen! Obwohl es den Anschein hat, als wollte Kokorin sich gar nicht im Ernst erschießen, ist das Testament, vom provozierenden Ton einmal abgesehen, in aller Form erstellt – notariell beglaubigt, mit Zeugenunterschriften und Angabe der Testamentsvollstrecker«, zählte Fandorin an den Fingern auf. »Und das Vermögen ist wirklich kein Pappenstiel, ich hab mich erkundigt: zwei Fabriken, drei Manufakturen, Häuser in diversen Städten, Werften in Libau und dazu eine halbe Million an Wertpapieren auf der Staatsbank!«
    »Eine halbe Million?« ächzte Xaveri Gruschin und riß den Blick von den Papieren. »Da hat die Lady ja wirklich Glück gehabt!«
    »Ja, genau, was diese Lady Aster mit der Sache zu schaffen hat, können Sie mir das erklären? Wieso erbt gerade sie das alles und kein anderer? Welche Verbindung gibt es zwischen ihr und Kokorin? Das müßte man herausfinden!«
    »Er hat doch geschrieben, daß er unseren Roßtäuschern nicht traut. Und die Angelsächsin wird schon wochenlang von allen Gazetten in den Himmel gehoben! Nein, mein Lieber, erklären Sie mir besser etwas anderes. Wie kommt es, daß Ihre werte Generation vom Leben gar so wenig hält? Bei jedem bißchen gleich piff-paff, und dabei tun sie alle noch wichtig, mit Pathos und Hohn gegen den Rest der Welt. Mit welchem Recht, frage ich Sie, mit welchem Recht?« Gruschin redete
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