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Fandorin

Fandorin

Titel: Fandorin
Autoren: Boris Akunin
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sich in Rage, während er daran denken mußte, wie frech und respektlos ihm gestern abend seine sechzehnjährige Lieblingstochter Saschenka gekommen war. Aber die Frage war wohl eher rhetorisch gemeint, die Meinung seines Schriftführers interessierte den Kriminalbeamten herzlichwenig, weshalb er die Nase gleich wieder in das Protokoll steckte.
    Dafür ereiferte sich Fandorin um so mehr.
    »Das ist ja gerade das Problem, auf das ich noch zu sprechen kommen wollte. Sie brauchen sich einen wie Kokorin doch nur einmal näher anzuschauen. Das Schicksal meint es gut mit ihm, er hat alles: Reichtum, Freiheit, Bildung, Schönheit …« (Letzteres behauptete Fandorin einfach so, der Vollständigkeit halber, obwohl er überhaupt nicht wußte, wie der Tote ausgesehen hatte.) »Und doch spielt er mit dem Tod und bringt sich am Ende tatsächlich um. Wollen Sie wissen, warum? ›Eure Welt kotzt uns an‹ – Kokorin hat es geschrieben, ohne viel Drumherum. Ihre Ideale – Karriere, Geld, Titel – bedeuten den meisten von uns Jungen gar nichts. Unsere Träume sind heute ganz andere. Glauben Sie, es ist Zufall, daß in den Zeitungen schon von einer Selbstmordepidemie die Rede ist? Die besten von den gebildeten jungen Leuten treten ab, ersticken an zu wenig geistigem Sauerstoff, und ihr, die Väter der Gesellschaft, wollt keine Lehren daraus ziehen!«
    Man durfte annehmen, daß sich Fandorins anklagendes Pathos gegen Xaveri Gruschin richtete, andere »Väter der Gesellschaft« waren nicht in der Nähe; der schien jedoch nicht im mindesten gekränkt, im Gegenteil, er nickte vergnügt.
    »Apropos!« sagte er grinsend und sah in seine Papiere, »da wir gerade bei zu wenig geistigem Sauerstoff sind:
Tschichatschew-Gasse, Revier Meschtschanskaja, dritter Polizeiabschnitt. Gegen 10 Uhr morgens wurde der Schuster Iwan Jeremejew Buldygin (27) erhängt aufgefunden. Als Grund für den Selbstmord gab der Hausmeister Pjotr Silin Schwierigkeiten bei der Beschaffung von Rauschmitteln an.
Die Besten treten ab, so ist es. Nur wir alten Narren, wir bleiben übrig.«
    »Lachen Sie nur«, sagte Fandorin mit Bitterkeit in der Stimme. »In Petersburg und auch in Warschau vergeht kein Tag, an dem nicht ein Student, eine Kursistin oder gar ein Gymnasiast sich vergiftet, erschießt oder ertränkt. Sie finden das lustig …«
    Und Sie werden es bereuen, Xaveri Feofilaktowitsch, aber dann wird es zu spät sein! dachte er boshaft – obwohl ihm bis zu diesem Moment noch nie der Gedanke an Selbstmord gekommen war, dafür war er von Natur aus viel zu fidel. Stille trat ein, in der sich Fandorin ein bescheidenes kleines Grab ohne Kreuz und außerhalb der Kirchenmauern vorstellte, Gruschin mit dem Finger die Zeilen entlangfuhr und raschelnd umblätterte.
    »Aber irgendwie geht das wirklich nicht mit rechten Dingen zu«, brummelte er. »Sind die denn alle verrückt geworden? Hier sind noch zwei Einträge, einer aus Abschnitt drei, Revier Mjasnitzkaja, Seite acht, der andere aus Abschnitt eins, Revier Rogoshskaja, Seite neun …
Um 12.35 Uhr wurde Revierinspektor Fjodoruk von der Gutsfrau Awdotja Filipowna Spizyna (wohnhaft in Kaluga, derzeitiger Aufenthaltsort: Hotel »Bojarskaja«) zum Haus der Moskauer Feuerversicherungssozietät, Podkolokolnyj-Gasse, bestellt. Frau Spizyna gab an, neben dem Eingang zur dortigen Buchhandlung habe ein anständig gekleideter, ca. 25 Jahre alter Mann vor ihren Augen den Versuch unternommen, sich zu erschießen; er habe sich die Pistole an die Schläfe gesetzt, die jedoch offenbar versagte, worauf der verhinderte Selbstmörder verschwunden sei. Frau Spizyna verlangte von der Polizei, den jungen Mann ausfindig zu machen und der Geistlichkeit zu überstellen, damit ihm kirchliche Bußübungen auferlegt werden könnten. In Ermangelung eines realen Tatbestands wurden keinerlei Fahndungsmaßnahmen ergriffen.
«
    »Da sehen Sie, ich sagte es ja!« triumphierte Fandorin, dessen Rachedurst schon gestillt war.
    »Gemach, gemach, junger Mann, das ist noch nicht alles«, unterbrach ihn der Vorgesetzte. »Hören Sie weiter. Seite neun.
Es rapportiert Wachtmeister Semjonow.
Der sitzt im Revier Rogoshskaja.
Um elf Uhr wurde obiger zum Angestellten Nikolai Kukin, Verkäufer in der Kolonialwarenhandlung »Brykin & Söhne« gegenüber der Kleinen Jausa-Brücke, gerufen. Kukin sagte aus, einige Minuten zuvor sei ein Student auf die steinerne Brüstung der Brücke gestiegen und habe sich die Pistole an den Kopf gesetzt, in augenscheinlicher
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