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Fandorin

Fandorin

Titel: Fandorin
Autoren: Boris Akunin
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ein Kukin, daß Kokorin Student ist? Er trug Gehrock und Hut, niemand im Alexandergarten hielt ihn für einen Studenten. In den Protokollen steht immer nur ›dieser Mann‹ oder ›der junge Herr‹ … Das ist mir ein Rätsel!«
    »Sie immer mit Ihren Rätseln!« Gruschin winkte ab. »Ein Idiot mag dieser Kukin sein, und basta. Er sieht einen jungen Herrn in Zivil und denkt: aha, ein Student. Oder er hat als Verkäufer ein Auge dafür, kennt seine Kundschaft, weil er von früh bis spät mit ihr zu tun hat.«
    »Einen Kunden wie Kokorin hat Kukin in seinem Krämerladen noch nie zu Gesicht bekommen«, widersprach Fandorin.
    »Na und? Was wollen Sie damit sagen?«
    »Ich will damit sagen, daß es nicht verkehrt sein kann, Frau Spizyna und Herrn Kukin zu befragen. Sie, Xaveri Filaktowitsch, haben freilich nicht die Zeit, sich um solche Kleinigkeiten zu kümmern, aber wenn Sie nichts dagegen haben, könnte ich …« Fandorin hatte sich gar ein wenig vom Stuhl erhoben, so sehr wünschte er, daß Gruschin nichts dagegen haben mochte.
    Gruschin wollte schon ein strenges Gesicht aufsetzen, besann sich jedoch. Ein bißchen Praxis zu schnuppern, zu lernen, wie man mit Zeugen umging, konnte dem Bürschchen wahrlich nicht schaden. Vielleicht wurde ja so noch etwas aus ihm. Und Gruschin sagte in großspurigem Ton: »Nichts einzuwenden!« Um dem Freudenschrei, der sich von des Kollegienregistrators Lippen lösen wollte, zuvorzukommen, fügte er hinzu: »Aber zuerst bitte ich gefälligst den Bericht für Seine Exzellenz zu Ende zu schreiben. Und noch etwas, mein Bester. Wir haben es jetzt vier Uhr. Darum begebe ich mich in mein trautes Heim. Und Sie erzählen mir morgen, wo der Verkäufer den Studenten her hat.«

DRITTES KAPITEL,
    in welchem ein »grummer« Student auftaucht
    Von der Mjasnizkaja, wo sich das Kriminalamt befand, bis zum Hotel »Bojarskaja« – laut Sammelbericht »vorübergehender Aufenthaltsort« der Gutsfrau Spizyna – waren es zwanzig Minuten zu Fuß, und Fandorin beschloß, der nagenden Ungeduld zum Trotz, diesen Weg tatsächlich zu Fuß zu gehen. Nicht genug, daß Lord Byron, dieser Quälgeist, dem Schriftführer unbarmherzig in die Seiten drückte – er hatte obendrein eine solche Bresche in sein Budget geschlagen, daß der Aufwand für die Droschke unweigerlich die Verpflegungsration beschnitten hätte. Die an der Ecke Gusjatnikow-Gasse gekaufte Lachspirogge kauend (uns ist nicht entgangen, daß Fandorin in seinem Ermittlungsfieber zu keinem Mittagessen gekommen war), schritt er eilig den Tschistoprudny Boulevard entlang, wo vorsintflutliche Weiblein in Hauben und hängenden Mänteln den fetten, frechen Tauben Brotkrümel vor die Schnäbel streuten. An ihm vorbei ratterten Kaleschen und Phaetons über das Straßenpflaster, mit denen Fandorin unmöglich mithalten konnte, und seine Gedanken nahmen eine verdrossene Richtung. Ein Detektiv zu Fuß, ohne Kutsche, ohne feurige Traber war eigentlich undenkbar. Gut, das Hotel »Bojarskaja« auf der Pokrowka ließ sich gerade noch so erlaufen, doch anschließend mußte er zur Jausa hinuntermarschieren, zum Kolonialwarenhändler Kukin – das brauchte gut eine halbe Stunde, das kam einem langen Sterben gleich, erboste sichFandorin (eine gelinde Übertreibung, so beeilen wir uns anzumerken), aber nein, der Herr Kriminalbeamte geizte mit jedem fiskalischen Fünfer. Wobei man wissen mußte, daß die Behörde ihm selbst monatlich achtzig volle Rubel für einen eigenen Kutscher zugestand. Da hatte man sie wieder, die Privilegien von Amt und Würde: Der eine rollte mit personengebundener Droschke nach Hause, während der andere auf Schusters Rappen seinen Dienstpflichten nachging.
    Aber da tauchten linker Hand über dem Dach des Kaffeehauses »Souchet« schon die Kuppeln der Dreifaltigkeitskirche auf, in deren Nachbarschaft sich das Hotel »Bojarskaja« befand, und Fandorin schritt aus – wichtigen Enthüllungen entgegen.
     
    Eine halbe Stunde später trottete er niedergeschlagen, mit hängendem Kopf den Pokrowski Boulevard hinunter, wo die Tauben genauso dreist und verfressen waren wie auf dem Tschistoprudny, nur wurden sie nicht von adligen Tantchen gemästet, sondern von gutbürgerlichen.
    Das Gespräch mit der Zeugin war unerfreulich ausgegangen. Fandorin hatte die Gutsfrau gerade noch erwischt, als sie in eine mit Koffern und Bündeln vollgestopfte Kutsche steigen wollte, um die Hauptstadt gen Gouvernement Kaluga zu verlassen. Aus Sparsamkeitsgründen reiste Frau
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