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Das Gewölbe des Himmels 2: Der Unrechte

Das Gewölbe des Himmels 2: Der Unrechte

Titel: Das Gewölbe des Himmels 2: Der Unrechte
Autoren: Peter Orullian
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1
    Die Wildnis
    D er Tag wurde stetig heller, während das Hohe Licht bis in den Zenit emporstieg. Tahn und Sutter führten ihre Pferde durch Steinsberg auf die nördlichen Klippen zu. Im strahlenden Tageslicht hinterließ der Anblick der verlassenen Stadt in Tahn ein leeres Gefühl. Irgendwie wirkte der Ort im grellen Sonnenschein noch einsamer. Das Klappern der eisenbeschlagenen Hufe ihrer Reittiere auf der steingepflasterten Straße hallte laut von den Mauern wider. Aus den Fugen zwischen den Steinen sah totes Gras hervor, das von den gelegentlichen Windböen zerzaust wurde. So weit war es also gekommen – die prächtige Stadt, die Tahn sich als lebendiges Zentrum des Wissens, der Kunstfertigkeit und des Gemeinsinns vorgestellt hatte, ragte noch immer hoch auf, aber an ihrem Rand wucherte wildes Gras und verdorrte. All die Handwerkskunst war nur noch eine bloße Hülle, die zurückgeblieben war, als das Leben, das sie einst erfüllt hatte, verschwunden war, und jede Straße glich einem Knochen, der von einem verwesten Körper übrig war.
    Sie überquerten eine breite Brücke in der Nähe einer Flussquelle. Tahn hatte den Eindruck, dass die verwitterten Fundamente noch so stabil waren wie an dem Tag, als man sie gelegt hatte. Am kristallklaren Wasser entlang führten Granitstufen in den Fluss hinab. Der Fremde blieb am Brückengeländer stehen und blickte auf den Flusslauf hinaus.
    »Ein Ort, an dem man Zuflucht vor der Hitze findet«, sagte der geheimnisvolle Mann. »Könnt Ihr nicht geradezu die Kinder dort drüben im Wasser waten sehen, wie sie einander nassspritzen und davonlaufen, um sich hinter den Beinen ihrer Mütter zu verstecken?«
    Das Bild brach mit Macht über Tahn herein. Er konnte sich keine bessere Verwendungsmöglichkeit für die langen Steinterrassen vorstellen. Entlang der Stufe lag eine Anzahl umgestürzter Krüge, manche zerbrochen, andere dagegen noch heil. Tahn stellte sich vor, wie hier Wasser geschöpft worden war, um in den Häusern von Steinsberg verbraucht zu werden. Die einfache Tätigkeit, Wasser ins Haus zu bringen, um das Abendessen zuzubereiten, erinnerte ihn an Helligtal. Obwohl sein Heimatdorf weit kleiner war und keinen so ehrgeizigen Bauplan aufwies, waren seine Bedürfnisse doch dieselben. Und dennoch hatten die Bewohner von Steinsberg dieses paradiesische Zuhause verlassen. Tahn ertappte sich dabei, sich zu fragen, was ihr seltsamer Reisegefährte wohl über das Ende der Steinsberger herausfinden würde – oder was er schon wusste, ihnen aber nicht erzählte.
    Das Wasser war unwiderstehlich. Tahn stieg ab, lief voraus, bog um den letzten Brückenpfeiler und sprang die drei breiten Stufen bis zum Ufer hinab. Er konnte den Grund klar erkennen. Der Geruch der sauberen, frischen Quelle ließ ihm das Wasser im Munde zusammenlaufen. Er griff mit der hohlen Hand in den Fluss, um seinen Durst zu stillen. Als er fertig war, nahm Tahn den Verschluss seines Wasserschlauchs ab und senkte die Öffnung in den Strom. Während er darauf wartete, dass der Schlauch sich füllte, betrachtete er das Spiegelbild des Himmels in der Wasseroberfläche: die Dächer der höchsten Gebäude westlich von ihm, den Himmel, die Brücke, Sutter und … wo war der Fremde? Tahn sah genauer hin, und ein kalter Schauer lief ihm die Arme hinauf und den Rücken hinunter. Er konnte sonst nichts in der glasklaren Wasserfläche erkennen.
    Sein Schlauch war voll, aber er hielt ihn weiter unter Wasser und blickte beiläufig auf. Er sah den Mann mit raschen, mühelosen Bewegungen von der Brücke herabschreiten, ohne dass er Tahn angesehen hätte. Es war vielleicht töricht, aber Tahn hatte gedacht, der Mann hätte neben Sutter gestanden. Er wusste zwar nicht genau was, aber irgendetwas an diesem Fremden war fürchterlich falsch. Er richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf seinen Wasserschlauch, zog ihn hoch und verkorkte ihn.
    So gleichmütig er konnte, stand Tahn auf und stieg die Stufen zum Ende der Brücke empor, wo Sutter zu ihm stieß.
    »Was ist los?«, fragte Sutter sofort.
    Tahn schüttelte den Kopf und sah beiseite, zu dem Fremden, der ihnen noch immer den Rücken zuwandte. »Später«, flüsterte er und schluckte. »Aber wir behalten unseren neuen Freund gut im Auge, ja? Irgendetwas stimmt nicht mit ihm.«
    »Und das hältst du für eine Neuigkeit?«, sagte Sutter und klopfte Tahn mit den Fingerknöcheln sacht auf die Brust. »Ich vertraue nur den Dingen, die ich am Stück aus dem Boden graben
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