Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Fandorin

Fandorin

Titel: Fandorin
Autoren: Boris Akunin
Vom Netzwerk:
Schnürchen.«
    »Also ein Zwicker.« Fandorin kritzelte die Angabe in sein Büchlein. »Noch weitere besondere Merkmale?«
    »Krumm stand er irgendwie. Der Kopf steckte fast ganz zwischen den Schultern. Eben ein Stipent, wie ich sage, hundertprozentig.«
    Befremdet schaute Kukin auf die »Amtsperson«, die erst einmal gar nichts mehr sagte, sondern dastand, blinzelnd, lautlos die Lippen bewegend, das Büchlein in Händen drehte. Der Mann dachte nach, das sah man.
    Uniform, picklig, Zwicker, stark gekrümmte Haltung
stand in dem Büchlein vermerkt. Die Pickel – gut, die ließen sich übersehen. Ein Zwicker kam im Inventar von Kokorins Nachlaß nicht vor. Möglich, daß er ihn irgendwo fallengelassen hatte. Die Zeugen hatten keinen Zwicker erwähnt, wobei die zum Aussehen des Selbstmörders nicht extra befragt worden waren, wozu auch. Gekrümmte Haltung? Hm. Die »Moskauer Nachrichten« beschrieben ihn als »proper«, wobei der Reporter bei dem Vorfall nicht zugegen gewesen war, er hatte Kokorin nie gesehen, die Beschreibung konnte er um des Effektes willen hinzugedichtet haben. Blieb dieStudentenuniform – die war nun nicht so einfach abzutun. Hatte es sich bei dem Mann auf der Brücke um Kokorin gehandelt, dann mußte er sich im Zeitraum von elf bis halb eins umgezogen und den Gehrock angelegt haben. Fragte sich, wo. Von der Jausa zur Ostoshenka und von da wieder zur Feuerversicherungssozietät war es ein gutes Stück Weg, in anderthalb Stunden schwerlich zu schaffen.
    Fandorin begriff mit einem flauen Gefühl in der Magengrube, daß es eigentlich nur einen Ausweg gab: Er mußte sich den Krämer Kukin schnappen und mit ihm ins Revier an der Mochowaja, in dessen Keller der Leichnam des Selbstmörders immer noch auf Eis lag, um eine Identifizierung vorzunehmen. Bei der Vorstellung des aufgerissenen Schädels mit einer Kruste aus Blut und Hirn wanderten Fandorins Gedanken auf natürlichem Wege zur erdolchten Kaufmannsfrau Krupnowa, die ihn nach wie vor in Alpträumen heimsuchte. Nein, in den »Kühlraum« hinabzusteigen, hatte er entschieden keine Lust. Doch zwischen dem Studenten auf der Jausa-Brücke und dem Selbstmörder aus dem Alexandergarten bestand eine Verbindung, der man nachgehen mußte, soviel war klar. Wer also konnte Auskunft geben, ob Kokorin pickelig und krumm gewesen war und ob er einen Zwicker getragen hatte?
    Erstens die Gutsfrau Spizyna. Aber die rollte gewiß schon auf das Stadttor von Kaluga zu. Zweitens der Kammerdiener des Toten, wie hieß der noch mal? Egal, der Ermittlungsbeamte hatte ihn aus der Wohnung geschmissen, damit war er unauffindbar. Blieben die Zeugen aus dem Alexandergarten und insbesondere die beiden Damen, mit denen Kokorin in der letzten Minute seines Lebens konversiert hatte – die sahen ihn bestimmt noch in allen Einzelheiten vor sich. Da standen sie in seinem Büchlein:
Jelisaweta Alexandrowna
von Ewert-Kolokolzewa (17), Vater Wirkl. Geh. Rat; Fräulein Emma Gottliebowna Pfuhl (48), Malaja Nikitskaja, im Hause derselben.
    Nun mußte er doch eine Droschke mieten.
     
    Der Tag neigte sich nur zögernd. Die lachende Maisonne wurde nicht müde, die goldenen Kuppeln der Stadt zum Strahlen zu bringen, unwillig rutschte sie auf die Linie der Dächer zu, als Fandorin, um zwei Heller ärmer, vor einer stattlichen Villa mit dorischen Säulen, Stuck an der Fassade und marmornem Portal aus der Droschke stieg. Der Kutscher sah, daß sein Fahrgast zögerte, und ermunterte ihn: »Das ist es, das Generalshaus, da können Sie sicher sein. Ich kutschiere schon ein paar Jährchen durch Moskau, müssen Sie wissen.«
    Und wenn Sie mich nun nicht reinlassen? dachte Fandorin mit Herzklopfen; er fürchtete eine Demütigung. Jetzt griff er nach dem blanken kupfernen Türklopfer, betätigte ihn zweimal. Die massive Tür mit den bronzenen Löwenmäulern ging augenblicklich auf; ein Portier schaute heraus, dessen Livree reichlich mit goldenen Posamenten geschmückt war.
    »Zum Herrn Baron? Von Amts wegen?« fragte er beflissen. »Zum Rapport oder in Kurierdiensten? Bitte einzutreten.«
    Das geräumige Foyer, von einem Kronleuchter und Gaslampen grell erleuchtet, schüchterte Fandorin noch mehr ein.
    »Zu Fräulein Jelisaweta, strenggenommen«, erklärte er. »Erast Petrowitsch Fandorin, von der Kriminalpolizei. In dringender Angelegenheit.«
    »Kriminalpolizei?« Die Stirn des Portiers furchte sich mißbilligend. »Etwa wegen des gestrigen Vorfalls? Ausgeschlossen. Das werte Fräulein hat den halben
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher