Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
13 - Wo kein Zeuge ist

13 - Wo kein Zeuge ist

Titel: 13 - Wo kein Zeuge ist
Autoren: Elizabeth George
Vom Netzwerk:
Prolog
    Die Dietrich war Kimmo Thorne von allen die Liebste: das Haar, die Beine, die Zigarettenspitze, der Zylinder und der Frack. Sie war das, was er »das Komplettpaket« nannte, und seiner Ansicht nach konnte keine ihr das Wasser reichen. Ach, natürlich konnte er auch die Garland darstellen, wenn's sein musste. Die Minnelli war einfach, und er wurde eindeutig immer besser bei der Streisand, aber wenn er die Wahl hatte - und die hatte er in der Regel, nicht wahr? -, dann entschied er sich für die Dietrich. Die kesse Marlene. Seine Nummer eins. Marlene konnte die Krümel aus dem Toaster singen, das war keine Frage.
    Er hielt also die Pose am Ende des Lieds nicht deshalb, weil es für die Darbietung erforderlich war, sondern weil er sie so liebte. Das Ende von »Falling in Love Again« verklang, und er verharrte wie eine Marlene-Statue: der eine Fuß im hochhackigen Pumps auf dem Stuhl, die Zigarettenspitze zwischen den Fingern. Der letzte Ton verhallte, und er stand immer noch reglos da, zählte bis fünf - ergötzte sich an Marlene und an sich selbst, denn sie war gut, und er war gut, er war sogar verdammt gut, wenn man's genau nahm -, ehe er sich rührte und das Karaokegerät abschaltete. Er lupfte den Zylinder, schlug die Frackschöße zurück und verneigte sich tief vor seinem zweiköpfigen Publikum. Tante Sal und seine Großmutter - seine treuesten Fans - reagierten genau, wie er erwartet hatte: »Großartig! Einfach großartig, Junge«, rief Tante Sally. Und Gran sagte: »Das ist unser Junge, wie wir ihn kennen. Durch und durch talentiert, unser Kimmo. Was werden deine Eltern nur sagen, wenn ich ihnen die Fotos schicke!«
    Das würde sie bestimmt schnellstens hierher bringen, dachte Kimmo sarkastisch. Aber er stellte den Fuß noch einmal auf den Stuhl, denn er wusste, Gran meinte es gut, auch wenn sie nicht die Allerhellste war, was ihre Ansichten über seine Eltern betraf.
    Gran wies Tante Sally an: »Weiter nach rechts, fang seine Schokoladenseite ein.« Nach wenigen Minuten war das Foto gemacht und die Show für den heutigen Abend vorüber.
    »Wo soll's denn hingehen heute Abend?«, fragte Tante Sally, als Kimmo in sein Zimmer ging. »Hast du eine neue Flamme, mein Junge?«
    Hatte er nicht, aber das musste sie ja nicht wissen. »Ich geh zu Blinker«, erwiderte er munter.
    »Nun, dann treibt keinen Unsinn, dein Freund und du.«
    Er zwinkerte ihr zu. »Würden wir doch nie tun, Tantchen«, log er im Hinausgehen. Er zog die Tür hinter sich zu und schloss ab. Zuerst kümmerte er sich um das MarleneKostüm. Kimmo zog es aus und hängte es auf, ehe er sich an seine Frisierkommode setzte. Er betrachtete sein Gesicht im Spiegel und erwog einen Moment, das Make-up teilweise zu entfernen. Aber schließlich verwarf er den Gedanken mit einem Schulterzucken und durchwühlte seinen Schrank nach zweckdienlicher Kleidung. Er wählte ein Sweatshirt mit Kapuze, seine bevorzugten Leggings und die knöchelhohen Wildlederstiefel mit den flachen Sohlen. Die Zweideutigkeit seiner Erscheinung gefiel ihm. Mann oder Frau?, mochte ein Beobachter sich fragen. Aber nur wenn Kimmo sprach, war die Antwort eindeutig. Denn er war endlich in den Stimmbruch gekommen, und wenn er den Mund aufmachte, war das Spielchen vorbei.
    Er zog sich die Kapuze des Sweatshirts über den Kopf und schlenderte die Treppe hinab. »Ich bin dann weg!«, rief er seiner Großmutter und Tante zu, während er seine Jacke vom Haken neben der Tür nahm.
    »Wiedersehen, mein Liebling!«, antwortete Gran.
    »Bleib anständig!«, fügte Tante Sally hinzu.
    Er warf ihnen eine Kusshand zu. Sie erwiderten die Geste. »Hab dich lieb«, sagten alle gleichzeitig.
    Draußen zog er den Reißverschluss seiner Jacke hoch und löste die Kette, mit der sein Fahrrad am Treppengeländer gesichert war. Er schob es zum Aufzug, drückte auf die Ruftaste, und während er wartete, überprüfte er, ob die Satteltaschen auch alles enthielten, was er brauchen würde. Er hatte eine geistige Checkliste, deren einzelne Punkte er nun abhakte: Nothammer, Handschuhe, Schraubenzieher, Brecheisen, Taschenlampe, Kopfkissenbezug, eine rote Rose. Letztere ließ er gern als Visitenkarte zurück. Man durfte schließlich nicht nehmen, ohne auch etwas zu geben.
    Draußen auf der Straße schlug ihm die eisige Nachtluft entgegen, und Kimmo freute sich nicht gerade auf die lange Fahrt. Er hasste es, mit dem Rad fahren zu müssen, vor allem dann, wenn die Temperatur so nah dem Gefrierpunkt war. Da aber
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher