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Sommer mit Nebenwirkungen

Sommer mit Nebenwirkungen

Titel: Sommer mit Nebenwirkungen
Autoren: Susanne Leinemann
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    Um 9.33 Uhr zog Heinlein die Waffe. Eine tschechische Luger mit einer Revolvertrommel aus Stahl. »Das wollte ich nur erwähnt haben«, teilte er der Gruppe mit, während er selbstzufrieden und breitbeinig, die Arme abwehrend vor der Brust verschränkt, auf seinem Stuhl lümmelte. Ja, er fand sich gut. Supergut.
    »Habe ich jetzt gewonnen? Klar habe ich gewonnen – ich überlebe, die anderen sind tot. Ganz einfach.«
    »Sehr fair war das nicht«, murmelte Sophie und massierte sich dabei leicht die Schläfen. Manchmal machte der Job sie müde.
    »Fair kommt nicht weit«, erklärte Heinlein und lachte dröhnend. »So ist es doch, Leute: Fair kommt nicht weit.«
    Die anderen sieben Kandidaten im Raum schauten betreten auf den Boden.
    Im C&O-Assessment-Center gehörten Rollenspiele zum Standard. Für heute Morgen hatte sich Sophie einen Klassiker ausgesucht, einen Stollen, der unerbittlich mit Wasser vollläuft. »Stellen Sie sich bitte vor, Sie als Gruppe sind dort tief unter der Erde gefangen, das Wasser steigt von Minute zu Minute. Sehr bald wird der Stollen komplett überflutet sein. Doch es gibt einen Fluchtweg, einen Rettungskorb, der wie ein Fahrstuhl in einem Schacht nach oben fährt. Allerdings passt in den Korb nur eine einzige Person. Und der Korb kann nur ein einziges Mal nach oben fahren. Nun die Frage: Wer von Ihrer Gruppe darf dort einsteigen? Und warum? Sie haben zehn Minuten Zeit, um sich auf eine Person festzulegen und Ihre Entscheidung zu begründen.«
    Solche Spiele mit der Existenz waren in der Assessment-Szene äußerst beliebt. Leben oder Tod, um nicht weniger sollte es hier gehen. In den ersten Jahren, als Berufsanfängerin, hatte Sophie noch gegen diese Methoden protestiert. Niemand, argumentierte sie damals, wisse genau, wie man sich in so einem schrecklichen Moment verhalte. »Den Tod vor Augen – da entdecke ich mich doch selber neu.« Mancher, der sich für mutig hielt, merkte, wie er sich, voller Angst, nur noch ans Leben klammerte. Wohingegen scheinbar Ängstliche über sich selbst hinauswuchsen. Letztlich hatte sie diese Rollenspiele dann aber doch akzeptiert, weil sie merkte, dass sie tatsächlich aussagefähig waren. Denn sie wurden von den Teilnehmern ernst genommen. Die Assessment-Kandidaten zogen mit und offenbarten Seiten ihrer Persönlichkeit, die sonst verborgen geblieben wären.
    Häufig stiegen sie sogar mit besonders großem Eifer auf solche Horrorszenarien ein, je bedrohlicher, desto besser. Das einfache Bild, das Sophie mit dem überfluteten Stollen entwarf, regte ihre Fantasie an und ließ Bilder in ihren Köpfen entstehen, die sich oft genug mit Hollywood-Filmszenen mischten. Es funktionierte. Also machte Sophie irgendwann ihren Frieden damit. Ihre Aufgabe als Psychologin war es, sich in sehr kurzer Zeit ein Bild über den Charakter, die Stärken und Schwächen der Kandidaten zu verschaffen. Und dann die Entscheidung zu treffen, wer für den Job infrage kam. Nicht irgendeinen Job. Beim C&O-Assessment-Center ging es um Top-Jobs in der globalen Wirtschaft. Mit Berufsanfängern arbeitete Sophie schon lange nicht mehr.
    Bis Heinlein sich einmischte, war an diesem Morgen alles gut gelaufen. Die meisten Argumente, die in der zehnminütigen Diskussion fielen, hatte sie schon vorher in anderen Gruppen gehört. So meinte der Saarländer, dem jüngsten Kandidaten gehöre der Platz im Rettungskorb; der Jüngste war allerdings nicht er selbst. Sophie machte sich einen Vermerk. Warum ließ er sofort jemand anderem den Vortritt, kämpfte nicht um sein eigenes Überleben? »Kein gutes Selbstwertgefühl«, notierte sie. »Keine Führungskraft. Oder nimmt er die Übung nicht ernst?«
    Die beiden Frauen in der Runde appellierten an die Ritterlichkeit der Männer und meinten, der einzige Platz stehe auf jeden Fall einer von ihnen zu. »Wie wollen Sie sich denn später, nach der Rettung, oben rechtfertigen – vor den Medien, vor der Öffentlichkeit? Ein einziger männlicher Überlebender, und unten in der Tiefe liegen zwei tote Frauen. Da werden Sie doch Ihres Lebens nicht mehr froh.« Das war gut argumentiert, logisch und doch emotional. Sophie gab beiden eine positive Beurteilung.
    Einen ungewöhnlichen Vorschlag machte Paul Grotemeyer. Er war ihr schon gestern aufgefallen, weil er die Dinge fokussiert und dabei unangestrengt anging. Eine echte Ausnahme. Er suchte nach einer ganz anderen Lösung. »Haben wir dort unten im Schacht ein Seil? Dann verknoten wir das Seil mit dem
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