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Falscher Ort, falsche Zeit

Falscher Ort, falsche Zeit

Titel: Falscher Ort, falsche Zeit
Autoren: Walter Mosley
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Gesetzeshüter New Yorks waren.
    »Wenn Sie das sagen.«
    »Warum?«
    »Hat man Ihnen das nicht erklärt?«
    »Ich frage Sie.«
    Ich sah die gut dreißigjährige Polizistin an und grübelte über die Möglichkeiten und Konsequenzen der Wahrheit.
     
    »Die Wahrheit«, hatte mein Ideologenvater mir einmal erklärt, »ändert sich mit dem Standpunkt des Betrachters.«
    »Was bedeutet das?« Ich muss etwa zwölf gewesen sein, denn kurz danach verschwand Tolstoy für immer. Meine Mutter folgte ihm auf die einzige ihr mögliche Weise – in einem Sarg.
    »Ein Diktator betrachtet die Wahrheit als eine Frage des Willens«, sagte er. »Alles, was er sagt oder erträumt, ist die absolute Wahrheit, und das Volk wird gezwungen, ihm zu folgen. Für den sogenannten Demokraten ist die Wahrheit der Wille des Volkes. Was immer die Mehrheit sagt, ist Gesetz, und dieses Gesetz wird für das Volk zur Wahrheit. Aber für Menschen wie uns«, sagte mein Vater, »ist die einzige Wahrheit die Wahrheit des Baumes.«
    »Was für ein Baum?«, fragte ich.
    »Alle Bäume«, verkündete Tolstoy McGill. »Denn die Wahrheit der Bäume sind ihre Wurzeln in der Erde und der Wind und der Regen. Die Sonne ist die Wahrheit des Baumes, und selbst wenn er gefällt wird, werden seine Samen verstreut und schlagen neue Wurzeln.«
     
    »Glauben Sie, dass ein Mensch sich ändern kann, Lieutenant?«, fragte ich Bethann Bonilla.
    »Was hat das mit meiner Frage zu tun?«
    »Dieser Haftbefehl bezieht sich auf einen anderen Mann«, sagte ich. »Auf den Mann, der ich früher war. Ich kann meine Vergangenheit nicht verleugnen, werde jedoch auch nichts gestehen. Ich kann Ihnen nur sagen, dass Sie mich nie dabei erwischen werden, die Dinge zu tun, von denen Ihre Leute glauben, dass ich sie tue. Dieser Mann bin ich nicht mehr.«
    Detective Bonilla erspürte mein Geständnis mehr, als dass sie es verstand. Sie wunderte sich über mich – es sollte nicht das letzte Mal sein.
    »Wissen Sie irgendetwas darüber, was heute Abend hier passiert ist?«, fragte sie.
    »Ist die Tote Laura Brown?«
    Nach kurzem Zögern sagte die Polizistin: »Nein. Ich glaube nicht.«
    »Und wie heißt sie?«
    »Sie werden es ja sowieso aus den Morgennachrichten erfahren. Sie heißt Wanda Soa. Zumindest gehen wir davon aus. Ein paar Nachbarn konnten uns eine Personenbeschreibung geben. Ein markantes Detail ist ein Tiger-Tattoo an ihrem linken Knöchel.«
    »Dann weiß ich nichts über die Sache. Vielleicht hat sie mich angerufen und den Namen Brown benutzt. Mein Display hat einen unbekannten Anrufer angezeigt. Sie können gern meine Anruflisten überprüfen. Aber ich habe Ihnen alles erzählt, was ich weiß.«
    In Büchern und Fernsehserien riskieren Privatdetektive gegenüber Polizisten häufig eine große Klappe. Sie berufen sich auf die Bürgerrechte oder markieren einfach nur so den starken Mann. Aber in Wirklichkeit muss man so nahtlos lügen, dass man selber nicht mehr genau weiß, was wahr ist.
    Das hat mir mein Vater nicht beigebracht. Er war ein Idealist, der wahrscheinlich im Kampf für die gute Sache gefallen ist. Ich bin bloß ein Überlebender aus dem Eisenbahnwrack der modernen Welt.
    »Sie können gehen, Leonid«, sagte Bonilla. »Aber Sie hören in der Sache garantiert wieder von uns.«
    »Dacht ich’s mir doch. Ich versuche immer noch, die Fingerfalle zu begreifen, die mein Vater mir gekauft hat, als ich fünf war.«

5
    Als ich wieder auf der Straße stand, fand ich den Gedanken, nach Hause zu gehen, unerträglich. Ich wusste nicht, worüber Katrina reden wollte, aber ein weiterer Verlust hätte mich mitten in einem Seiltanz ohne Netz aus dem Gleichgewicht gebracht.
    Also ging ich zum Naked Ear am East Hudson. Früher einmal war es eine Literatenkneipe gewesen, in der aufstrebende junge Schriftsteller sich gegenseitig Gedichte und Prosa vorlasen. Dann war es für lange Zeit ein Zufluchtsort, an dem sich NOLITA -Broker (Immobiliensprech für North of Little Italy) zum Flirten und Angeben trafen. Seit den jüngsten Umwälzungen an der Wall Street war der Laden ins Schwimmen geraten und suchte eine neue Identität.
    Der Besitzer hatte mir erzählt, dass er den Namen nicht geändert hatte, weil was Wort »naked« offenbar täglich neue Gäste anlockte.
    Mir war es egal, wie sich das Lokal nannte oder wer an dem Mahagonitresen saß. Ich kam nur aus zwei Gründen ins Naked Ear. Zum einen, um nachzudenken und zu trinken, wenn ich Probleme hatte; zum anderen, um Gertrud Longman meinen
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